Pferdeherpes: »Vagabund« ringt mit dem Tod

Reichelsheim/Gießen (ssa). Eigentlich keine große Sache: Wegen Hufproblemen hat der Reichelsheimer Ulrich Winter seinen Kaltblüter »Vagabund« in die Veterinärklinik nach Gießen gebracht. Nun ringt das Pferd mit dem Tod. Vagabund hat sich in der Universitätsklinik mit einem aggressiven Virus angesteckt: Pferdeherpes.
Vagabund atmet schwer. Schnell wiegt der kräftige Körper auf und ab. Kein Schnauben, kein Wiehern. Lautlos steht das Tier in einem Stall der Gießener Pferdeklinik. Sanft streichelt Tierärztin Dr. Anna Wogatzki über den Kopf des siebenjährigen Süddeutschen Kaltblüters. Allerdings nicht mit den bloßen Händen. Insgesamt vier Handschuhe trägt Wogatzki – sowie mehrere Schichten an Schutzanzügen. Denn Vagabund ist schwer krank. Infiziert mit einem aggressiven Herpes-Virus.
Still kämpft Vagabund gegen das Virus. Der Besitzer des Pferdes dagegen tobt vor Wut. »Es ist ein Drama«, sagt er. »Vagabund wankt jeden Tag zwischen Leben und Tod.«
Am Ortsrand von Reichelsheim bearbeitet der Hobby-Landwirt Ulrich Winter eine Ackerfläche mit vier Süddeutschen Kaltblütern. Die Feldarbeit mit Pferden betreibt das Ehepaar Winter seit den 1970er Jahren. Mit den Kaltblütern haben sie erfolgreich an nationalen und internationalen Wettbewerben teilgenommen. Auch Vagabund hat Preise bei Pflüg-Wettkämpfen eingeheimst.
Anfang Juli entdeckt der Reichelsheimer, dass Vagabund nicht rund läuft. »Es war eine Entzündung an den Vorderhufen, eine leichte Hufrehe. Das Pferd war überfüttert«, erklärt Winter. Er bringt das Tier am 4. Juli in die Universitätsklinik nach Gießen. »Ich sollte Vagabund ein paar Tage dort lassen. Der Hufbeschlag wurde später in der Klinik noch geändert.«
Winter bringt Vagabund ausgerechnet an dem Tag nach Gießen, als dort ein Pferd aus Beselich (Landkreis Limburg-Weilburg) eingeliefert wird. Unter Bauchschmerzen leidet das Tier. Anzeichen für einen Virus gibt es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es wird operiert. Danach bewegt sich das Pferd aber unkoordiniert, lässt keinen Urin mehr, hat starkes Fieber. Fünf Tage später muss es eingeschläfert werden. Bei einer anschließenden Untersuchung stellen die Ärzte in allen Organen den Herpes-Virus fest. Heute ist klar, dass in Beselich der ganze Reiterhof von einer Herpes-Epidemie betroffen ist. Elf Tiere mussten inzwischen eingeschläfert werden.
»Wir haben in Beselich sowie auch in der Universitätsklinik alle notwendigen Hygienemaßnahmen sofort eingeleitet«, erklärt Tierärztin Wogatzki. Für vier Pferde kommen die Maßnahmen allerdings zu spät – unter ihnen auch Vagabund. Das Tier aus Beselich hat offenbar insgesamt vier Pferde infiziert. Eines von ihnen stirbt wenige Tage später.
Zahlreiche Pferde und Ponys tragen Herpesvieren in sich, ohne dass sie Symptome aufweisen. Für eine Übertragung des Virus reicht allerdings nur ein Nieser. Auch Übertragungen durch verunreinigte Gegenstände und Personen, die das Virus an Händen, Schuhen und sonstiger Kleidung tragen, sind möglich. Der Zeitraum von der Ansteckung bis zum Auftreten von Fieber beträgt meist drei bis zehn Tage. Auf den Menschen ist die Krankheit nicht übertragbar.
Wie sich Vagabund genau angesteckt hat, ist nicht klar. Eindeutig sei noch nicht einmal nachgewiesen, dass sich die vier Pferde bei dem Tier aus Beselich angesteckt haben, erklärt Wogatzki. Sie spricht daher auch von Verdachtsfällen. Allerdings sei es sehr wahrscheinlich, räumt die Tierärztin ein. »Das bedauern wir sehr. Für uns ist das ein Desaster.«
Am Freitagnachmittag führt sie Mitarbeiter der Wetterauer Zeitung durch mehrere Sicherheitsschleusen bis zum Stall von Vagabund. Geschlossen sei die Tierklinik nicht, berichtet sie. Notfälle könne man weiterhin aufnehmen. Nur der Bereich mit den drei betroffenen Tieren sei isoliert. Die Pferde in zwei weitere Stallbereichen würden untersucht, Anzeichen für das Virus habe es aber bislang nicht gegeben.
»Achtung, Infektionsgefahr!«, steht draußen vor dem Stall auf einem Schild. Still steht Vagabund. Der Kaltblüter leidet seit Tagen unter Fieberschüben. Die Atemwege der betroffenen Pferde sind entzündet, oft ist auch die Ausscheidung von Harn und Kot blockiert. Bei schweren Verläufen komme es auch zu Koordinationsstörungen, berichtet Wogatzki.
Bei Vagabund habe man letzteres bisher nicht diagnostiziert. »Er ist außerdem fieberfrei«, sagt die Tierärztin am Freitag. Derzeit erhalte er Entzündungshemmer sowie Vitaminpräparate und Medikamente zur Stärkung des Immunsystems. Der Herpes-Virus sei »ungewöhnlich aggressiv«, erklärt Wogatzki. Vagabund leide auch unter einem Brusthöhlenerguss. Daher trägt das Pferd einen breiten, schwarz-grünen Verband.
Hobby-Landwirt Winter derweil schwankt zwischen Hoffen und Bangen. »Mal ringt Vagabund mit dem Tod. Dann geht es dem Pferd wieder besser.« Außerdem befürchtet er Folgeschäden an dem Tier und dass Vagabund nie wieder an Wettbewerben teilnehmen könnte. Am Freitag scheint Vagabund auf dem Weg der Besserung. Sein Besitzer ist derweil zum Warten verdammt. Wogatzki sagt: Frühestens vier Wochen nach der letzten Feststellung von Symptomen könne die Isolation aufgehoben werden. Aber zunächst geht es für das mächtige Tier ums nackte Überleben.