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Ergreifendes Erinnern

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Sie haben gefühlvoll an ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte erinnert (von links): Michelle Lieb, Charlotte Reminder, Lilli Mager, Theresa Henke, Marike Eichwede, Janika Nass, Pia Terwersch, Pfarrer Werner Giesler.
Sie haben gefühlvoll an ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte erinnert (von links): Michelle Lieb, Charlotte Reminder, Lilli Mager, Theresa Henke, Marike Eichwede, Janika Nass, Pia Terwersch, Pfarrer Werner Giesler. © Kötter

Karben (jkö). »Heute habe ich nur schlechte Nachrichten: Unsere jüdischen Freunde werden in Mengen weggeholt.« In der St.-Michaelis-Kirche in Klein-Karben herrscht für einen Moment Stille. Die Besucher sind sichtlich bewegt, einige fassen sich an den Händen, hier und da liegt ein Taschentuch im Schoß. Kurz darauf erzählen die jungen Stimmen weiter - von Jahren der Verfolgung, von Ausgrenzung und Angst, von kahlgeschorenen Köpfen und dem Tod in Gaskammern.

Die Erzählungen stammen aus der Feder von Anne Frank, die in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden wäre - 1945 jedoch mit gerade einmal 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen sterben musste. Vorgelesen werden ihre Tagebucheinträge an diesem Sonntagabend von sieben jungen Frauen in einer Gedenkstunde zur Reichskristallnacht. Diese Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war geprägt von einer »unvorstellbaren Zerstörungswut«, erklärt Pfarrer Werner Giesler. Sie markieren den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre später in den Holocaust mündete, und die Anne Frank als jüdisches Mädchen am eigenen Leib spürte.

Für die Gedenkstunde haben sich die sieben jungen Karbenerinnen mit Pfarrer Giesler in den vergangenen Wochen den historischen Texten angenommen und die für sie berührendsten Textstellen für die Lesung arrangiert.

»Das Tagebuch erzählt vom Leben im Versteck, aber eben auch aus der Gedankenwelt, den Sehnsüchten einer 13- und dann 14-Jährigen«, erklärt Theresa Henke (20). Vieles sind Themen, die auch junge Menschen heute umtreiben - etwa, wenn Anne Frank in ihrem Tagebuch reflektiert, dass sie »zwei Seelen« in sich trage, das »vor Ausgelassenheit hüpfende Geißlein« an der Oberfläche und die »reine«, nachdenkliche, gute Anne in ihrem Innenleben.

Musik und Worte

Dass sich die Mitwirkenden - Michelle Lieb, Charlotte Reminder, Lilli Mager, Theresa Henke, Marike Eichwede, Janika Nass, Pia Terwersch - mit diesem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, aber eben auch dieser ganz persönlichen Zerrissenheit in aller Tiefe auseinandergesetzt haben, wird in ihrer Vortragsweise deutlich. Mal mit ruhiger Stimme, mal vor Wut tobend bringen sie die Gefühlswelt Anne Franks in die Klein-Karbener Kirche.

Marike Eichwede begleitet auf der Klarinette, die eigens von ihr ausgewählten jiddischen Lieder unterstreichen die Traurigkeit in Annes Versteck, aber auch die immer wieder durchblitzende Lebensfreude der jungen Jüdin. Die Sicherheit der Vortragenden ist hart erarbeitet, weiß Hartmut Polzer, Initiator der Stolpersteine in Karben, die die Gedenkstunde gemeinsam mit der evangelischen Kirchengemeinde Klein-Karben ins Leben gerufen hat. »Sich diesem Thema zu nähern, ist keinesfalls einfach.« Dabei ist es sowohl für Polzer als auch für die jungen Erwachsenen wichtig, sich die Geschichte so deutlich vor Augen zu halten.

Dass die NS-Zeit »zu Genüge« behandelt worden sei, wie immer wieder konstatiert wird, dem widersprechen sie deutlich. Im Gegenteil: Unisono betonen die Mitwirkenden, dass der Platz in der Schule dafür nicht ausreiche. »Dass wir das Thema erst in der Oberstufe behandeln werden, ist zu spät«, befinden die Neuntklässlerinnen Lilli Mager und Michelle Lieb. Übergriffe bis zum heutigen Tage zeigten, dass das Gedenken weiter nötig sei, sagt Pfarrer Werner Giesler.

Stolperstein-Initiator Polzer arbeite daher eng mit der Kurt-Schumacher-Schule Karben zusammen. »Die Schüler sind immer sehr interessiert«, sagt er. Besonders, wenn die in den Schulbüchern gelehrten Fakten zum Tod der sechs Millionen Juden greifbar gemacht würden, berühre das junge Menschen regelmäßig: Wenn sie etwa entlang der Stolpersteine ihre Heimatstadt Karben begehen und wirklich begreifen, wo überall Juden gelebt haben, »dann sehen viele das Thema mit anderen Augen«.

Freiwillig gemeldet

Vor diesem Hintergrund lobt Polzer ausdrücklich das Engagement der jungen Frauen, die sich nach einem Aufruf eigens für das Projekt gemeldet hatten. Von ihrer Inszenierung sind sowohl der Stolperstein-Initiator als Kenner der Anne-Frank-Tagebücher als auch das Publikum sichtlich bewegt. Polzer: »Wir hatten das Gefühl, dass Anne selbst vor uns sitzt.«

Am Volkstrauertag, 17. November, wird um 12 Uhr oberhalb des Friedhofs Klein-Karben eine Gedenkstätte eingeweiht. Sie erinnert an die gefallenen Soldaten, die zivilen Opfer des Zweiten Weltkriegs und der ermordeten Juden aus Karben. Ein Gottesdienst beginnt um 11 Uhr in der Trauerhalle.

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