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Der Textmagier

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Von: Gerhard Kollmer

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Woran sind sehr gute literarische Texte erkennbar? Unter anderem daran, dass man sie immer wieder lesen kann, ohne sich dabei zu langweilen. Zu dieser Spezies gehört zweifellos Wolf Schmidts alias Babba Hesselbachs die Zeiten überdauernder Klassiker »Der röhrende Hirsch«. Der Fernsehfilm aus den 60er Jahren mit dem Autor und der unvergessenen Lia Wöhr in den Hauptrollen wird seiner Vorlage in hohem Maß gerecht. Aber gibt es vielleicht noch was Besseres als Lesen und Gucken? Ja! Einem genialen Rezitator bewundernd an den Lippen hängen, der mit dem »röhrenden Hirsch« ein Einpersonenstück auf die Bühne zaubert, das wirklich von nichts mehr überboten werden kann.

Woran sind sehr gute literarische Texte erkennbar? Unter anderem daran, dass man sie immer wieder lesen kann, ohne sich dabei zu langweilen. Zu dieser Spezies gehört zweifellos Wolf Schmidts alias Babba Hesselbachs die Zeiten überdauernder Klassiker »Der röhrende Hirsch«. Der Fernsehfilm aus den 60er Jahren mit dem Autor und der unvergessenen Lia Wöhr in den Hauptrollen wird seiner Vorlage in hohem Maß gerecht. Aber gibt es vielleicht noch was Besseres als Lesen und Gucken? Ja! Einem genialen Rezitator bewundernd an den Lippen hängen, der mit dem »röhrenden Hirsch« ein Einpersonenstück auf die Bühne zaubert, das wirklich von nichts mehr überboten werden kann.

Dass er dieser Textmagier ist, hat Jo van Nelsen am Sonntagabend im ehemaligen Kesselhaus des Alten Hallenbads in Friedberg wieder einmal glänzend demonstriert. Vor voll besetzten Reihen ließ van Nelsen alle Figuren der story – neben Babba und Mamma deren Kinder Heidi und Peter, den schwäbelnden Buchhalter Münzenberger sowie, zwerchfellerschütternd, Erna – zu ihrem Recht kommen. Der gleichförmig dahinplätschernde Tonfall von Babbas Nichte zweiten Grades gleicht, so der von ihr Genervte, einem »seichten, verschlammten Dorfbach mit einem halben Prozent Gefälle«.

Jo van Nelsen verleiht dieser schlichten, bauernschlauen Frau, die in jedem dritten Satz auf ihren »wettschaftlischen Äwwin« (dt. wirtschaftlichen Erwin, ihren Ehemann) zu sprechen kommt, eine geradezu beängstigende Präsenz. Sie zermahlt den ihr zur Hochzeit verabreichten Apfelkuchen im Stil einer wiederkäuenden Kuh, ihre Finger dabei als Zahnstocher benutzend.

Monstrum aus dem Mülleimer

Der röhrende Sechzehnender in Dackelgröße mit leicht lädiertem Geweih ist für Babba Inbegriff von wertlosem Kitsch, was der herbeigeeilte Buchhalter Münzenberger bestätigt (»Das Ding hat höchstens 7,50 Mark Materialwert«). Für Mama besitzt das Lieblingstier auf deutschen Wohnzimmerschinken von einst dagegen einen hohen ideellen Wert. Aber sparen wir uns die Inhaltsangabe eines literarischen Meisterwerks, das sowieso jeder über 60-Jährige kennt, und wenden uns dem Psychokrieg zwischen Babba und Mama zu.

Er versucht mit gezielten Herabsetzungen (»Das Monstrum aus dem Mülleimer«) dieses Machwerk eines gewissen, aus Mamas Sicht zu Unrecht vergessenen, Oswald Deubel gezielt herabzusetzen, und überbietet sich dabei in wunderbaren Wendungen und Metaphern (»Du leidest offenbar an akuter Hirschvergiftung«). Mama übernimmt den – was auch sonst? – emotionalen Part, mehrmals in Tränen ausbrechend. Sie schaltet aber, auch dies ein herrlicher Einfall Wolf Schmidts, sofort um, als sie sich dem vernichtenden Siebenmarkfünfzig-Urteil Münzenbergers nicht länger verschließen kann. Jetzt gilt es, Erna, die allerdings längst nicht so blöd ist wie sie auftritt, das wertlose Ding anzudrehen. Es ist einfach großartig, wie Jo van Nelsen diesen Dialog der Ungleichen vor unseren Ohren (und Augen) Wirklichkeit werden lässt. Die doppelbödige Geschichte nimmt ihren grotesken Lauf, und am Ende stehen Babba wie Mama als die Gelackmeierten da. Ein (Friedberger) Autor und sein kongenialer Rezitator: Dieses unübertreffliche Duo durfte im Alten Hallenbad erleben, wer das Glück hatte, noch eine Karte zu bekommen. (gk)

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