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Als die Kirche ins Dorf kam

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Von: Redaktion

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Rudolf Grulich und Angelika Steinhauer führen das Institut für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien in Ockstadt. 	FOTOS: ERIKA QUAISER
Rudolf Grulich und Angelika Steinhauer führen das Institut für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien in Ockstadt. FOTOS: ERIKA QUAISER © pv

Friedberg-Ockstadt (pm). Wer weiß heute noch, was ein Rucksackpriester oder ein Kapellenwagen gewesen sind? Prof. Rudolf Grulich vom Institut für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien in Ockstadt erinnerte beim Tag der offenen Tür an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Nachdem mehr als zwölf Millionen Deutsche aus dem Gebiet jenseits von Oder und Neiße, aus Polen, der Tschechoslowakei, aus Ungarn und Jugoslawien ins zerstörte Deutschland vertrieben worden waren, änderte sich auch die konfessionelle Struktur Hessens. Allein aus dem Sudetenland, also aus Böhmen und Mähren, kamen mehr als 400 000 Deutsche nach Hessen, - 394 Eisenbahnzüge mit je 40 Viehwaggons mit jeweils 30 Personen.

Lkw mit Altar und Beichtstuhl

Als Gepäck waren 30 Kilo erlaubt. Die Sudetendeutschen waren zu 90 Prozent katholisch und kamen in Oberhessen mehrheitlich in Städte und Dörfer, die seit der Reformation evangelisch waren.

Für den geistlichen Trost in diesen Gebieten sorgten katholische vertriebene Priester, die »Rucksackpriester«. Mit ihren abgewetzten Militäruniformen und geflickten Rucksäcken sahen sie oft aus wie Landstreicher. Sie besuchten in den Orten ihre ehemaligen Pfarrkinder und hatten nur Kelch und Messbuch im Rucksack, um dort meist in evangelischen Kirchen, Schulen und Gasthäusern Gottesdienst zu feiern. In der ganzen Wetterau gab es nur wenige katholische Orte wie Ockstadt, Ilbenstadt oder Rockenberg. Erst nach der Währungsreform wurden auch erste Kirchen gebaut und entstanden neue Gemeinden, die Lokalkaplaneien genannt wurden und erst später Pfarreien wurden. Da es in vielen Orten zu wenige Katholiken gab, um eine Kirche zu bauen, wurden von der Ostpriesterhilfe große Lastwagen zu Kapellenwagen umgebaut. So kam die Kirche ins Dorf. Jeweils eine Woche dienten diese Kapellenwagen als Ersatz einer Kirche. Jeder Kapellenwagen war 14 Meter lang, zwei Meter breit, drei Meter hoch und fünf Tonnen schwer. Eine Seitenwand konnte herausgeklappt werden und machte den Blick auf den Altar frei. Auf der anderen Seite befand sich der Eingang zum Beichtstuhl. Im Heck waren die beiden Priester untergebracht, und vorne, im Führerhaus, übernachtete der Fahrer.

Nach Grulichs Vortrag wurde lebhaft diskutiert. Die aus dem Sudetenland vertriebene Elisabeth Führer hat einen Kapellenwagen noch erlebt. Er stand auf ihrem Schulhof in Schwalheim. Eingeleitet wurde die Veranstaltung durch Angelika Steinhauer mit dem letzten Gedicht von Werner Bergengruen, der Ode. »An die Völker der Welt«. Der nächste Tag der offenen Tür am 15. Februar hat »Die Seelsorge im Sudetenland zwischen 1938 und 1945« zum Thema.

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