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Von Helden und Mördern

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Von: Oliver Potengowski

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Fünf Wochen nach dem Massenmord an über 80 Zwangsarbeiterinnen in Hirzenhain öffnet die US-Armee die Gräber, um die nur unvollständig verscharrten Leichen 
zu bergen.	ARCHIVFOTO
Fünf Wochen nach dem Massenmord an über 80 Zwangsarbeiterinnen in Hirzenhain öffnet die US-Armee die Gräber, um die nur unvollständig verscharrten Leichen zu bergen. ARCHIVFOTO © Red

Wetteraukreis (sax). Über die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in der Wetterau referierte der frühere Friedberger Bürgermeister und Historiker Michael Keller nun im Bürgerhaus Blofeld. Eingeladen hatte der Heimat- und Geschichtsverein Reichelsheim.

Drei Ereignisse stellte Keller in den Mittelpunkt seines Vortrags, an denen er zeigte, wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod in diesen letzten Kriegstagen war - und wie Schicksale von Zufällen und der Willkür der handelnden Personen abhingen. Dabei ging es um die Rettung der Stadt Friedberg, die Ermordung von mehr als 80 Zwangsarbeitern in Hirzenhain und die Zerstörung der Dörfer Leisenwald und Waldensberg.

Am 23. März hatte die US-Armee die erste Pontonbrücke über den Rhein bei Oppenheim errichtet. Dass Friedberg bereits sechs Tage später von Panzern umstellt war, zeigt, wie sehr die deutschen Truppen und Befehlsstrukturen bereits in Auflösung waren.

Die Aussichtslosigkeit eines Kampfes hielt deutsche Fanatiker jedoch nicht davon ab, auch jetzt noch die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und Massenmorde zu begehen.

»Manchmal wäre man froh, wenn man bestimmte Fotos nicht haben würde«, sagte Keller über ein Schwarz-Weiß-Bild, das aufgereihte, teilweise nackte Leichen im Wald bei Hirzenhain zeigt. »Jeder wusste, dass da was war«, betonte Keller in drastischen Worten. »Die blutigen Köpfe haben teilweise noch aus dem Boden geschaut.« Am 26. März waren die Zwangsarbeiterinnen von SS-Leuten ermordet worden.

»Die Frauen stören«, beschrieb Keller das Motiv. Denn im Zwangsarbeiterlager, in dem sie bei den Buderuswerken untergebracht waren, wollte die SS Quartier beziehen. »Das war kein zufälliger Mord, das war ein Mord in der Logik der SS-Truppe«, erzählte Keller. Damit grenzte er sie von Wehrmachtsoffizieren und -soldaten wie dem Friedberger Kampfkommandanten Heinrich Wölk ab, die sich ihre bürgerlichen Maßstäbe erhalten hätten. »Das waren keine Pazifisten«, betonte er. Mit der kampflosen Übergabe folgten sie nur den überlieferten Regeln der Kriegsführung. »In aussichtsloser Lage haben sie zu kapitulieren, um ihre Männer und die Zivilbevölkerung zu schonen.«

Keller schilderte eindrucksvoll die skurrile Szenerie, in der US-Kommandant Walter G. Smith zusammen mit einem gefangenen deutschen Offizier durch das noch in deutscher Hand befindliche Friedberg zur Burg fährt. »Im Prinzip kommt es einem im Nachhinein verrückt vor, wie man drei Leben riskiert, um etwas zu retten, obwohl man die Waffen hat, es zu zerstören«, zitierte Keller die nachträgliche Verwunderung von Smith über sein Handeln.

Das tollkühne Unternehmen gelang auch, weil Smith dem Kampfkommandanten verdeutlichte, dass 200 Bomber bereitstanden, um Friedberg zu zerstören, falls es nicht übergeben werde. Keller wies jedoch darauf hin, dass solches nach heutigen Maßstäben vernünftige Handeln besonders in der Schlussphase des Krieges keineswegs selbstverständlich gewesen sei. Während der Gespräche zur Übergabe sei ein Wehrmachtssoldat mit Maschinenpistole auf die Gruppe zugestürmt und habe versucht, die Übergabe zu verhindern.

Kriegsverbrechen auf beiden Seiten

Obwohl Keller sie nicht als Helden bezeichnet, haben die Männer, die Friedberg vor der Zerstörung retteten, mehr Mut gehabt, als die angeblichen Heldenbilder, die der Nationalsozialismus gerade in der Endphase des Krieges stilisierte - und die junge Männer motivierten, fanatisch bis zum Untergang kämpfen zu wollen. Das führte zur Zerstörung der Dörfer Waldensberg und Leisenwald am Rande des Büdinger Waldes. Keller beschreibt den Rückzug der 6. SS-Gebirgsdivision, die sich nach Thüringen absetzen wollte. Er schilderte, wie die Truppe, die von der US-Armee überrollt worden war, kleinere amerikanische Einheiten überfiel, um sich Fahrzeuge und Munition zu verschaffen. Warum und wie die Situation ausgerechnet in den beiden Dörfern eskalierte, ist noch unzureichend erforscht. Berichte sprechen von US-Soldaten, die in ihren Schlafsäcken ermordet wurden. Am Ende des sinn- und aussichtslosen Kampfes der SS-Division standen zwölf getötete Zivilisten, zwei niedergebrannte Dörfer und zahllose getötete Soldaten. Dass auch SS-Männer mit Kopf- und Genickschüssen gefunden wurden, zeigt, dass es auf beiden Seiten Kriegsverbrechen gab.

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