Giftgas für Auschwitz aus Friedberg
Friedberg (WZ). Einen Aufsehen erregenden Fund machte jetzt der Ockstädter Herbert Gröninger. Er stieß auf eine alte Rechnungskopie, die belegt, dass eine im Zweiten Weltkrieg in Friedberg ansässige Firma Giftgas für Auschwitz an die SS geliefert hat. Der Friedberger Historiker Hans-Helmut Hoos erfuhr von dem Papier und trug Informationen über die Firma und den Adressaten, den SS-Obersturmführer Kurt Gerstein, zusammen.
Es war ein Zufallsfund: Herbert Gröninger aus Ockstadt recherchierte wegen einer ehemaligen Baracke des Max-Planck-Instituts im Ockstädter Schloss, die während des Zweiten Weltkrieges ohne irgendwelche Unterlagen errichtet und dann nach 1945 ebenso spurlos verschwunden war. Dabei stieß er auf eine Rechnung der Firma DEGESCH (Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung) vom 31. Mai 1944. Diese Rechnung war an den SS- Obersturmführer Kurt Gerstein in Berlin, Leipzigerstraße 31/32, gerichtet. Darin wird lakonisch mitgeteilt: »Wir sandten am 3. Mai ab Dessau mit einem Wehrmachtsfrachtbrief der Heeresstandortverwaltung Dessau an das Konzentrationslager Auschwitz, Abteilung Entwesung und Seuchenabwehr, Station Auschwitz als Frachtgut folgende Sendung: Zyklon Blausäure ohne Reizstoff.« Als neue Anschrift des Rechnungsstellers der »Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung M.B.H.« war Friedberg/Hessen, Kaiserstraße 70, Postfach 98, angegeben.
Maßgeblich an Zyklon-Produktion beteiligt
Die Firma DEGESCH, ursprünglich mit der Herstellung von Schädlingsbekämpfungsmittel befasst, war seit 1941 maßgeblich an der Massenproduktion und dem Verkauf von Zyklon B Blausäure beteiligt, mit dem ab dem Frühjahr1942 systematisch der Massenmord an Juden, Sinti und Roma in den Vernichtungs-lagern der Nationalsozialisten, besonders in Auschwitz-Birkenau begangen wurde. Erste Versuche mit dem Giftstoff waren von der SS bereits seit 1941 erfolgt und hatten zu dem Ergebnis geführt, dass auf diese Weise der Massenmord an Juden, Sinti und Roma durchgeführt werden könne.
Zyklon B bestand aus kleinen Zellstoffscheiben, die wie Pellets aussahen und mit Blausäure getränkt waren. Diese Blausäure, Cyanwasserstoff, trat dann, wenn es mit Luft in Berührung kam aus. Ausgeliefert wurde der Giftstoff, der ursprünglich als Schädlingsbekämpfungsmittel entwickelt worden war, in luftdichten Blechdosen in der Größe von 200 bis 1500 Gramm.
Die vorliegende Rechnung der Firma DEGESCH lautete über »13 Kisten enthaltend je 30 - 390 Büchsen à 500 g« und wurde dem Empfänger mit 975 Reichsmark in Rechnung gestellt. Vier Kilogramm Zyklon B, so wurde später in dem Prozess gegen die Firma festgestellt, reichten aus, um 1000 Menschen zu vergasen.
Reizstoff zur Warnung nicht beigefügt
Normalerweise enthielt das Gift einen Reizstoff, um Menschen zu warnen. Kurt Gerstein soll gefordert haben, diesen Warnstoff dem Gift nicht mehr beizufügen, sozusagen als »schonende Sonderform zur Tötung von Menschen«, wie es zynisch hieß. Die entdeckte Rechnungskopie weist genau auf diesen Sachverhalt hin, denn das gelieferte Zyklon B war ohne Reizstoff geliefert worden, diente also mit Sicherheit der Ermordung von KZ -Insassen. Die gelieferte Menge hätte demnach ausgereicht, um bis zu 48 750 Menschen umzubringen.
Wie kam es nun dazu, dass die Rechnung der Firma offensichtlich von Friedberg, Kaiserstraße 70, aus versandt wurde? Frankfurt war in dem Zeitraum vom 29. Januar bis zum 24. April 1944 mehreren verheerenden Bombenangriffen ausgesetzt gewesen, bei denen die gesamte Altstadt zerstört worden war, also auch der ursprüngliche Sitz der Firma DEGESCH in der Weißfrauenstraße 9.
40 000 Einwohner waren vom Bahnhof Eschersheim nach Wetzlar, Friedberg und Gießen geflohen. Die Firma DEGESCH hatte nach den Bombenabgriffen ihren Firmensitz in das naheliegende Friedberg ausgelagert und von dort aus ihre Rechnung an Kurt Gerstein gesandt.
Wer war Kurt Gerstein?
Wer war nun der Adressat der Rechnung, Kurt Gerstein? 1905 geboren, war er seit Anfang 1941 Mitglied der SS. Aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse wurde er zum Hygiene-Institut der Waffen-SS versetzt und stieg im Januar 1942 zum Chef der Abteilung Gesundheitstechnik auf. So macht es durchaus Sinn, dass er als Empfänger der in Friedberg ausgestellten Rechnung fungierte. Er hatte für die Beschaffung von Zyklon B zu sorgen, das ursprünglich zu Desinfektionszwecken eingesetzt und ab Spätsommer 1942 als Massenvernichtungsmittel verwendet wurde.
Gersteins Rolle im Dritten Reich ist bis heute umstritten. Einerseits informierte er über Mittelsleute das Ausland über die Massenmorde, andererseits fungierte er als Beschaffer von Zyklon B im größeren Umfang und wusste um dessen Verwendung. Zu dem Zeitpunkt der in Rechnung erstellten Lieferung dürften nach dem Bericht der einzigen Überlebenden, Gisela Eckstein, noch viele der am 16. September 1942 von Friedberg aus deportierten Juden in Auschwitz gelebt haben.
Es ist eine erschütternde Erkenntnis, der weiter nachzuspüren sein wird, was es damit auf sich hat, dass die Rechnung über die von der SS bestellten Vernichtungsmittel von Friedberg aus versandt wurde, welche Firmen in dieses Geschäft verwickelt waren und wie die Firma DEGESCH offensichtlich von hier aus ihre Geschäfte abgewickelt hat.