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„Wenn die Pause zur Hölle wird“: Butzbacher liefert erschütternden Bericht über Mobbing

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Von: Sabrina Dämon

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Die Schule war die Hölle, erzählt Norman Wolf. Über Jahre ist er von seinen Mitschülern gemobbt worden. Heute, als 28-jähriger psychosozialer Berater, möchte er Kindern helfen, die in der gleichen Situation sind. »Es gibt sehr viele Kinder, die davon betroffen sind.« Er twittert, hält Vorträge und hat ein Ratgeber-Buch geschrieben. © Sabrina Dämon

Als Kind ist der heute 28-jährige Norman Wolf über lange Zeit von Mitschülern gemobbt worden - beleidigt, geschlagen, bespuckt. Nun möchte der Butzbacher Mobbing-Opfern helfen.

Butzbach – Es läuft gut. Richtig gut. Anfragen vom Rundfunk, Vorträge in Schulen, ein Gastseminar an der Uni. »Ich bin überwältigt davon, was passiert«, sagt Norman Wolf. Der 28-Jährige strahlt. Er erzählt von seinem Buch. Doch dann sagt er: »Manchmal wünsche ich mir, der zwölfjährige Norman könnte das sehen.« Von dieser Zeit handelt sein Buch »Wenn die Pause zur Hölle wird«. Er schildert darin seine Erfahrungen als Mobbing-Opfer und gibt betroffenen Kindern sowie Eltern und Lehrern Ratschläge. »Ich hoffe, ich kann damit vielen helfen.«

Es fing an im Schullandheim. Norman war in der fünften Klasse auf einem Gymnasium bei Aschaffenburg. »Ich habe keinen Anschluss gefunden.« Dann die Klassenfahrt. Der damals Zehnjährige kommt mit anderen in ein Zimmer. »Ich war mutig, habe Witze gemacht, abends, im Bett, haben wir geredet.« Über die Familie, über Hobbys. Und über Mädchen. Wie die anderen auch, verrät Norman, welches Mädchen er mag.

Butzbacher schreibt Buch über Mobbing: „Habe mich zurückgezogen“

Er wacht auf, weil ihn zwei Mitschüler an den Armen und an den Beinen aus dem Bett ziehen. Sie tragen ihn durch den Gang. Norman, im Schlafanzug, weint und versucht, sich zu befreien. Vor dem Mädchenzimmer legen sie ihn ab. Die Mädchen gucken, darunter die, in die er verliebt ist. »Ich lag da und habe mich für mich selbst geschämt.« Von da an hört es nicht mehr auf. Zuerst Beleidigungen wegen seiner Eltern, weil Normans Vater arbeitslos und Alkoholiker ist und seine Mutter eine Putzstelle hat. »Dann waren es meine Klamotten. Meine Schuhe mit Klettverschluss. Dass ich ›Pokémon‹ schaue.«

Mit den Demütigungen beginnt der Teufelskreis, erzählt er: »Ich habe mich zurückgezogen und versucht, die negativen Gefühle zu kompensieren. Mit Essen, weil es immer da war und mir ein gutes Gefühl gegeben hat.« Mit zwölf ist er 1,50 Meter groß und wiegt 75 Kilo. Die anderen nennen ihn »fettes Schwein«.

Butzbacher hatte als Kind wegen Mobbing Suizidgedanken

Heute weiß Norman: »Je mehr du dich zurückziehst, desto aktiver werden die Mobber. Wenn du nicht reagierst, gehen sie einen Schritt weiter.« Schultasche aus dem Fenster werfen, Stifte klauen, Jacke verstecken. Als sie mitbekommen, dass er, wenn er sich kratzt, rote Stellen auf der Haut bekommt, halten sie ihn fest und kratzen ihm ein Hakenkreuz auf die Stirn. Und als er in der Pause ihre Sprüche ignoriert, kommt einer und schlägt ihm die Nase blutig.

Am letzten Tag vor den Sommerferien denkt der Zwölfjährige an Selbstmord. Auf der Busfahrt spucken ihm die anderen auf den Kopf. »Zu Hause habe ich mich im Spiegel angesehen und gedacht: Ja, du bist ekelhaft, fett, wertlos. Die anderen haben recht. Und ich dachte: Eigentlich bin ich gar nicht so gerne am Leben.«Doch die Ferien helfen. Übers Internet lernt er Kinder kennen, mit denen er lacht, sich über seine Interessen, Anime und Manga, austauscht. Er kommt in die achte Klasse, die Schüler sind aufgeteilt worden. Ein Jahr später verlassen die zwei Hauptmobber, wie Norman sie heute nennt, die Schule. Es wird besser.

Butzbacher erhebt nach Mobbing Vorwürfe gegen Lehrer

Vorwürfe macht der heute 28-Jährige den Lehrern, denen er sich anvertraut habe, die ihm aber »desaströse Ratschläge« gegeben haben. Einmal sprach er mit einem Lehrer, weil der ihn aufforderte, in die Pause zu gehen, Norman sich aber nicht traute. Als er von den Schlägen berichtet habe, habe der Lehrer gesagt, da gehörten ja wohl immer zwei dazu, Norman habe sicher auch seinen Teil beigetragen. Eine Lehrerin habe geraten, die Schikane zu ignorieren - dann hören die schon auf. Heute sagt Norman: »Ignorieren hat noch nie ein Problem gelöst. Eine Rechnung kann ich auch nicht ignorieren. Oder eine Krankheit.«

Als das Mobbing weniger wird und schließlich aufhört, änderte sich Normans Leben grundlegend: »Meine Probleme sind wie Dominosteine umgefallen.« Er nimmt ab, die Noten (er war stets mit Vieren und Fünfen durchgerutscht) werden besser; sein Abi macht er mit einem Schnitt von 1,2. Er geht als Au-Pair in die USA, studiert Psychologie. Daran, sagt er, »ist klar zu sehen, was Mobbing mit Kindern macht«. Manches wird dennoch bleiben. Zum Beispiel die gelegentlichen Selbstzweifel. »Verbringen meine Freunde nur aus Mitleid Zeit mit mir?«, fragt er sich dann. Oder, wenn er sich ansieht, denkt er an die Zeit, in der er schnell und viel zugenommen hat: »Ich habe noch immer Dehnungsstreifen an meinen Oberschenkeln.«

Doch er ist zufrieden - mit sich, seiner Arbeit, seiner Lebenssituation. Er arbeitet bei der Aids-Hilfe in Frankfurt, möchte durch seine Coming-out-Geschichte andere unterstützen. Und er möchte mit dem Buch über Mobbing helfen - indem er Eltern und Lehrer auf die Probleme aufmerksam macht. Vor allem aber, indem er Betroffenen sagt: »Du bist nicht schuld, und du bist nicht alleine!«

Butzbacher erklärt: Was man gegen Mobbing tun kann

In der Schule gibt es eine soziale Rangordnung, sagt Norman Wolf. Wie es dazu komme, dass jemand unten stehe, sei unterschiedlich und willkürlich: Kinder, die empfindsam seien, vielleicht, weil sie zu Hause Probleme haben. Oder Kinder mit Migrationshintergrund. Ein passendes Bild für die Rangordnung sei die Team-Wahl im Sportunterricht: »Wer als Letztes noch da steht, ist ganz unten.«

Bezeichnend für Mobbing sei das verschobene Machtverhältnis: Der Einzelne, der sich nicht wehren kann, steht der Überzahl gegenüber. Mit seinem Buch »Wenn die Pause zur Hölle wird. Wie du dich gegen Mobbing stärkst und Selbstvertrauen gewinnst« möchte er vor allem betroffene Kinder ansprechen. Das Buch, sagt er, ist ein Ratgeber, der auf seinen Erfahrungen und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert. Er klärt darin u.a. darüber auf, dass Mobbing nicht gleichzusetzen mit ärgern ist - was, wie er sagt, Lehrer gerne so darstellen würden. Oder darüber, was Mobbing mit Kindern macht. Zudem gibt er in dem Buch Handlungsempfehlungen.

Was Norman Wolf sehr freut: die Resonanz auf das Buch. Er hat bereits Vorträge gehalten. Bald wird er ein Gastseminar für angehende Lehrkräfte in Stuttgart halten. Genau das sei wichtig: Denn viele schauten weg, wollten es nicht zu ihrem Problem machen, sagen: Das müssen die Schüler unter sich klären. Dabei seien sie die Einzigen, die etwas tun können. »Du musst als Lehrer nicht gleich die Lösung haben. Du musst nur erst mal ein offenes Ohr haben, das Kind ernst nehmen.« Zudem seien die Lehrer diejenigen, die Disziplinarmaßnahmen ergreifen könnten - im schlimmsten Fall einen Schulverweis für die Mobber, wenn es trotz Ermahnungen nicht aufhört. »Weil es nicht sein kann, dass das Opfer die Schule verlassen muss«, sagt er. »Die Polizei rät mir ja auch nicht, die Stadt zu verlassen, wenn ich überfallen werde. Sie sucht den Täter.« Für die Kinder sei es wichtig, über Mobbing zu sprechen. Er selbst hat das nur selten getan. Mit seinen Eltern nie. »Sie haben sich nur gestritten. Manchmal hat meine Mutter in der Küche gestanden und geweint. Da erzählst du nicht, dass es dir schlecht geht.« Zudem habe er sich geschämt. »Zu Hause will man erzählen, man ist der beliebteste Junge.« Er sei jedoch oft bei seinem Opa gewesen, hat geweint. »Das hat mir sehr geholfen.«

Ehemalige Mitschüler wenden sich wegen Buch an Butzbacher

Kürzlich, erzählt er, haben sich zwei ehemalige Mitschüler gemeldet, da sie von seinem Buch erfahren haben. Sie seien damals am Mobbing eher passiv als Zuschauer beteiligt gewesen. Einer habe nun geschrieben, dass er das, was geschehen sei, zwar nicht von seinen Schultern laden könne, aber er wolle es erklären: Auch er sei von den zwei Haupttätern gemobbt worden, habe dann, aus Angst, er könne wieder Opfer werden, mitgemacht. »Ich habe mich sehr gefreut, dass sie sich gemeldet haben«, sagt Norman Wolf. Letztlich könne das Umfeld viel gegen Mobbing tun. Es gebe engagierte Lehrkräfte, die ihn kontaktiert hätten. Aber vonseiten der Schulleitungen gebe es oft Widerstand, bspw. beim Thema Vorträge an Schulen. Oder bei einfachen Maßnahmen: Es gibt eine Studie, sagt Norman Wolf, »je mehr Pausenaufsicht, desto weniger Mobbing. Eigentlich so simpel«.

Auch eine Jugendliche aus Bad Vilbel (Wetterau) hat vor wenigen Jahren ein bewegendes Buch über ihre Mobbing-Erfahrungen geschrieben.

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