Tiefe Trauer oder extreme Wut

Bad Nauheim (bk). Schwerer Unfall auf der B 3: zwei tote Kinder, die Mutter begeht später Selbstmord. Ein Lkw-Fahrer hat eine Familie zerstört und kommt mit einer Bewährungsstrafe davon. Ein Fehlurteil? Solche tragischen Fälle aus der Wetterau sind es, die Rechtsanwalt Wolfgang Heil in einem Buch schildert.
Heiligabend: Der Vater einer vierköpfigen Familie aus Rodheim schmückt den Christbaum. Weil die Spitze zu Bruch geht, fährt seine Frau mit den Kindern, die sechs und acht Jahre alt sind, nach Friedberg, um Ersatz zu beschaffen. Auf der B 3 kommt es zur schicksalhaften Begegnung mit einem Lkw, der auf die Gegenfahrbahn gerät. Im Golf der Familie sterben beide Kinder, die verletzte Mutter wird später depressiv, die Ehe geht kaputt, sie tötet sich selbst. Zuvor war sie jeden Tag am Grab der Kinder, hatte sich immer wieder den Kopf zermartert, sich selbst beschuldigt. »Warum nur habe ich die Kinder nicht zu Hause gelassen?« – diese Frage beschäftigte die Frau ununterbrochen.
Mit diesen erschütternden Geschehnissen steigt Wolfgang Heil, der die Nebenklage der Eltern als Anwalt unterstützte, in sein Buch »Fahrlässige Tötung – 20 Fälle aus der Praxis eines Verkehrsanwalts« ein. Für die Angehörige ist es in solchen Verhandlungen kaum zu ertragen, wenn der Angeklagte sein Recht der Aussageverweigerung nutzt, wenn sie keine Aufklärung über die Unfallursache erhalten. Wenn der Richter ihnen untersagt, ihre Trauer mit einem Bild des Opfers oder brennenden Kerzen in den Gerichtssaal zu tragen. Nur wenigen Betroffenen gelingt nach einem tragischen Verlust ein Neustart. Heil greift den Fall eines Ehepaars auf, das nach dem Tod ihres Jungen den Bauernhof in der Wetterau verkauft und mit einem Hotel in Kanada wieder sein Glück findet.
20 Fälle aus der Praxis |
35 Jahre lang war der Bad Nauheimer Wolfgang Heil als Verkehrsanwalt in Friedberg aktiv. 40 Jahre lang leitete er die Verkehrswacht Wetterau, nach wie vor ist er kommissarischer Vorsitzender dieser Organisation. Am Herzen liegt dem 75-Jährigen die Aufklärung junger Leute über Unfallgefahren. »Ganz still wird es, wenn ich Jugendlichen drastisch schildere, was passiert, wenn ein Fußgänger angefahren wird. Erst bricht die Stoßstange die Beine, dann prallt der Oberkörper auf die Kühlerhaube. Oft stirbt das Opfer, wenn der Kopf auf die Windschutzscheibe kracht.«\nVon den 20 Fällen, die Heil in sein Buch aufgenommen hat, haben sich 19 in der Wetterau ereignet. In Kurzform erläutert er Unfallverlauf und Prozessgeschehen, aber auch Hintergründe, die in der Presseberichterstattung keine Rolle gespielt haben.\nDas Buch »Fahrlässige Tötung – 20 Fälle aus der Praxis eines Verkehranwalts« (ISBN 978-3-00-053676-2) ist unter anderem in Buchhandlungen in Friedberg und Bad Nauheim erhältlich. (bk) |
Mit extremen Gefühlen war der 75-jährige Heil, der seit 2008 im Ruhestand ist, in seiner jahrzehntelangen Berufspraxis oft konfrontiert. »Angehörige des Opfers stürzen in tiefste Trauer, schweigen aufgrund des Unfassbaren oder erleiden eine schwere Depression. Andere reagieren mit äußerster Wut und Aggression«, schreibt er im Vorwort. Selbst Angehörige des Täters werden manchmal angegriffen – nicht nur verbal. »Auch Prozesse können emotional aus dem Ruder laufen, aber meist geht es sachlich zu«, sagt Wolfgang Heil. Der Anwalt nimmt in seinen Fallschilderungen die distanzierte Position des Juristen ein, ohne die entsetzlichen Folgen außen vor zu lassen, die solche Verkehrsunfälle für die betroffenen Familien haben. Er hat meist die Täter vertreten, die am Steuer kurz unaufmerksam waren oder an der Theke ein Bier zu viel getrunken haben. Wie leben sie mit ihrer Schuld? »Manche haben jahrelang daran zu knapsen, andere gehen kaltschnäuzig darüber hinweg«, sagt Heil. Er weiß um das Unverständnis, mit dem viele Menschen auf Urteile in solchen Prozessen reagieren. Wenn auf der Straße mehrere Menschen sterben oder nach dem Unfall querschnittsgelähmt an den Rollstuhl gefesselt sind, kann eine Freiheitsstrafe auf Bewährung oder gar eine Geldstrafe schwer akzeptiert werden. Nicht selten endet ein Prozess auch mit Freispruch mangels Beweisen, weil der Unfallhergang nicht zweifelsfrei rekonstruiert werden kann. Vor die Schranken des Gerichts zu treten, hat ihn stets fasziniert, weil der Ausgang einer Verhandlung von der Person des Richters, der Tagesform des Gutachters oder von unvorhersehbaren Aussagen abhängt. Manchmal war ein Prozessverlauf selbst für einen alten Hasen wie Wolfgang Heil unfassbar. So berichtet er von einem Mann, der sich stark angetrunken hinters Steuer setzt. Auf einer Straße im Raum Altenstadt holpert sein Wagen über ein Hindernis. Der Mann steigt aus, wankt zurück und sieht einen Toten auf der Straße liegen. Er entschließt sich zur Flucht, taucht zwei Tage unter, wird später ermittelt, weil am Unfallort ein Stück des Spoilers zurückgeblieben war. »Die Aussage der Gerichtsmedizin war ein Hammer: Bei der Obduktion konnte nicht geklärt werden, ob der Mann bereits tot war, als er von meinem Mandanten überrollt wurde.« Auch Trunkenheit war nicht nachweisbar. Der Staatsanwalt klammerte sich an den letzten Strohhalm. Beim Überfahren des Opfers waren dessen Kleidung und Geldbörse beschädigt worden. Der Angeklagte hatte sich somit einer Unfallflucht schuldig gemacht und wird zu einer Geldstrafe verurteilt.
Eine überraschende Wende erlebte Heil auch im Fall eines Autofahrers, der beim Linksabbiegen einen Jungen auf dem Fußgängerüberweg tödlich verletzte. »Er gab an, aufgrund der tief stehenden Sonne gar nichts gesehen zu haben.« Was zunächst nicht glaubhaft schien, bestätigte sich bei der medizinischen Untersuchung. Bei dem Mandanten wurde ein Gehirntumor diagnostiziert, der sein Sehvermögen stark beeinträchtigte.
Unerwähnt lässt der Bad Nauheimer im Buch die Verhandlungen über die finanziellen Folgen schwerer Unfälle, die er oft als »Geschachere« wahrgenommen hat. »Früher hatten Versicherungen Schadensregulierer, mit denen ich zu vernünftigen außergerichtlichen Einigungen kommen konnte. Das gibt es heute nicht mehr«, erläutert der Anwalt. Wie Heil durchblicken lässt, geht es vor deutschen Gerichten in Sachen Schmerzensgeld oder Schadensersatz restriktiv zu. »Für eine Querschnittslähmung gab es lange höchstens 100 000 Euro, ich habe mal 120 000 durchgesetzt.« Prozesse mit schwerbehinderten Opfern haben ihn am meisten berührt. »Wenn jemand nicht mehr hochkommt, waren das für mich die schlimmsten Fälle.«