1. Wetterauer Zeitung
  2. Wetterau
  3. Bad Nauheim

Holocaust-Opfer: Akribische Spurensuche

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

78 Bewohner des jüdischen Altenheims in der Frankfurter Straße 63–65 sind am 15. September 1942 von der Gestapo verschleppt worden. Die beiden Villen stehen noch heute.
78 Bewohner des jüdischen Altenheims in der Frankfurter Straße 63–65 sind am 15. September 1942 von der Gestapo verschleppt worden. Die beiden Villen stehen noch heute. © Nicole Merz

Bad Nauheim (bk). Wie viele Stunden Dr. Thomas Schwab in die Recherche nach den Holocaust-Opfern investiert hat, kann er nicht sagen. »Vor zwei Jahren hat die AG Geschichte damit begonnen«, sagt der Hobbyhistoriker. Am Ende der akribischen Suche steht eine eindrucksvolle Zusammenstellung von enormer lokaler Bedeutung.

Dr. Thomas Schwab und seinen Kollegen von der AG Geschichte ist es nicht nur gelungen, die genaue Zahl der Bad Nauheimer jüdischen Glaubens zu ermitteln, die Opfer der Nazi-Terrorherrschaft wurden. Zu jedem der 270 Ermordeten werden auch interessante biografische Daten aufgelistet. Jetzt sind die Ergebnisse auf einer von Schwab entwickelten Internetseite zu finden: www.holocaustdenkmal-badnauheim.de.

Die nüchtern gehaltene Aufzählung, die in ihrer Gesamtheit gleichwohl erschütternd wirkt, beginnt mit Elfriede Abraham. Nach den Recherchen der AG Geschichte wurde sie am 11. Februar 1903 in Altenkirchen im Westerwald geboren. In Bad Nauheim lebte die als Haushälterin tätige Frau in der Parkstraße 9.

Mit 88 Jahren deportiert

Nach ihrer Emigration nach Luxemburg wurde sie im Oktober 1941 von Trier aus als Nummer 36 ins Getto nach Litzmannstadt (Lodz) im besetzten Polen deportiert. Elfriede Abraham wurde dort im September 1942 im Alter von 39 Jahren ermordet. In ihrer Geburtsstadt Altenkirchen erinnert eine Gedenktafel an ihr Schicksal.

Schwabs Zusammenstellung endet mit Susanne Ziegelstein (geborene Süsskind), die am 23. November 1853 in Atzbach im Lahn-Dill-Kreis geboren wurde. Sie war verwitwet und lebte mit ihrer Familie in Treis an der Lumda in der Hauptstraße 27. Am 22. April 1941 zog sie zusammen mit ihrer Tochter Jettchen nach Bad Nauheim ins jüdische Altenheim, Frankfurter Straße 63/65. In den Morgenstunden des 15. September 1942 wurde sie zusammen mit sämtlichen Bewohnern des Altenheims aus Bad Nauheim verschleppt. Zwölf Tag später erfolgte die Massendeportation von Darmstadt aus ins Getto Theresienstadt. Auf der Deportationsliste der Gestapo Darmstadt vom 27. September 1942 finden sich 78 Bewohner des jüdischen Altersheims.

Susanne Ziegelstein ist unter der Nummer 199 aufgeführt, ihre Tochter Jettchen unter 200. Bereits wenige Tage nach ihrer Ankunft in Theresienstadt verstarb die Mutter am 8. Oktober 1942 im Alter von 88 Jahren. Ihre Tochter wurde am 29. Januar 1943 im Alter von 59 Jahren ins Vernichtungslager Auschwitz Birkenau gebracht und gilt als »verschollen«.

Kolb-Buch als Grundlage

Nach den Worten von Schwab wurde die Recherche-Initiative vor etwa zwei Jahren gestartet, wobei die Gruppe aus AG-Geschichte-Mitgliedern das Thema »70 Jahre Kriegsende« 2015 bereits im Blick hatte. In diesem Jahr sollten die Pläne für ein Holocaust-Opfer-Erinnerungsmal auf den Weg gebracht werden. Das Buch »Die Geschichte der Bad Nauheimer Juden« von Stephan Kolb aus dem Jahr 1987 bot den Hobbyhistorikern eine gute Grundlage. »Am Ende von Kolbs Buch sind 786 Namen von Bürgern jüdischen Glaubens aufgelistet, die in Bad Nauheim gelebt haben. Von 155 war dem Autor bekannt, dass sie in Konzentrationslager deportiert wurden«, sagt Schwab. In der Liste seien neben dem Namen allerdings nur Geburtsort und -tag aufgeführt.

Wie die Arbeitsgruppe bei ihren eigenen Nachforschungen schnell bemerkt habe, müsse es über die von Kolb erwähnten 155 hinaus weitere Holocaust-Opfer aus Bad Nauheim geben. »Wir haben uns darangemacht, Recherchen zu allen 786 vom Autor erwähnten Juden anzustellen.

Als sehr hilfreich erwies sich Schwab zufolge das Gedenkbuch »Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945« im Koblenzer Bundesarchiv, das ebenso im Internet zu finden ist wie das Archiv der Holocaust-Gedenk- und Dokumentationsstätte Yad Vashem in Jerusalem. Dort erfuhren die Bad Nauheimer Hobbyhistoriker nicht nur, wer in den Lagern ermordet wurde, sondern stießen meist auch auf Angaben zur Biografie. »In manchen Fällen reichte es aus, nur den Namen eines jüdischen Mitbürgers in eine Suchmaschine einzugeben – schon wurde man fündig. Bei anderen Personen waren umfangreiche Nachforschungen notwendig«, berichtet Schwab.

1942: Gestapo räumt Altenheim

In Kolbs Buch seien zum Beispiel viele Juden nicht als deportiert aufgeführt, die Ende der 1930er Jahre aus Bad Nauheim in ihre ursprüngliche Heimatgemeinde zurückgekehrt seien. Von dort aus hätten die Nazis diese Menschen später ins KZ gebracht und schließlich getötet. Gerade in solchen Fällen habe die Literaturrecherche in anderen Büchern über den Holocaust in Mittelhessen weitergeholfen. Einen wichtigen Beitrag zum Gelingen der lokalhistorischen Herkulesaufgabe leisteten externe Berater, vor allem Monica Kingreen vom Jüdischen Museum in Frankfurt. Sie verfügt über ein umfangreiches Archiv mit Fotos und Dokumenten. Bilder von zahlreichen ehemaligen Bad Nauheimer Bürgern jüdischen Glaubens sind auf der von Kingreen betreuten Internetseite (www.vor-dem-holocaust.de) zu finden.

Etwa 120 der insgesamt 270 Bad Nauheimer Holocaust-Opfer wohnten im jüdischen Altersheim (Frankfurter Straße 63/65) oder besuchten die jüdische Bezirksschule (Frankfurter Straße 103, heute Sophie-Scholl-Schule). »Am 15. September 1942 rückte die Gestapo mit mehreren Lastwagen an und verschleppte die Altenheimbewohner zunächst nach Friedberg. Von da aus ging es weiter nach Darmstadt. Anschließend kam es zu einer Massendeportation in die Konzentrationslager«, sagt Schwab. Jüngere Verwandte dieser Senioren seien oft rechtzeitig ins Ausland geflohen und hätten die Alten nachholen wollen.

Das sei aber nicht mehr gelungen. Die Bezirksschule sei dagegen bereits 1939 geschlossen worden. Die Kinder seien meist in ihre Heimatgemeinden zurückgekehrt und später in KZs ermordet worden. Auch einige Lehrer gehörten laut Schwab zu den Opfern.

Erinnerungsmal kostet 40 000 Euro

Auf der von Schwab erstellten Internetseite wird auch zu Spenden für das Erinnerungsmal aufgerufen. Wie berichtet, soll an der Parkstraße ein vom Friedberger Professor Peter Schubert gefertigter Entwurf realisiert werden. Zu sehen sein wird eine Bank, über deren Lehne eine Jacke geworfen ist. Daneben steht ein Stein, auf dem die Namen aller Opfer verewigt werden.

Die AG Geschichte hofft, dass in den kommenden Monaten 40 000 Euro zusammenkommen, um das Erinnerungsmal 2016 realisieren zu können.

Auch interessant

Kommentare