Aus der Ukraine: Flucht zur Tochter in Bad Nauheim – und die große Angst um die Daheimgebliebenen

Als die ersten Bomben detonieren, macht sich Irina mit anderen Frauen und Kindern ihrer Familie auf den Weg von der Ukraine auf nach Westen.
Bad Nauheim – Am Donnerstag, 24. Februar, erhielt Irina in ihrer Heimatstadt 300 Kilometer südlich von Kiew schon früh einen Anruf ihrer Freundin und Patin ihrer Tochter: Der lange befürchtete Krieg habe begonnen, in Kiew fielen Bomben Im Hintergrund hörte die 34-Jährige den Lärm der Flugzeuge über der ukrainischen Hauptstadt, und ihr Mann, Veteran des Krieges im Donbas 2011, sagte sofort: „Ihr müsst weg!“ Seit dem 26. Februar sind die Frauen und Kinder der Großfamilie in Bad Nauheim in Sicherheit und bangen um das Leben ihrer Männer, Väter, Söhne.
Dass sie so schnell den Weg vom Herzen der Ukraine nach Hessen geschafft haben, verdanken sie Irinas Schwager Ioan, dem Mann ihrer in Bad Nauheim verheirateten Schwester Tanja. Noch am Donnerstagabend setzte sich Ioan gemeinsam mit seiner zu Besuch weilenden Schwägerin Vera ins Auto und gehörte an der polnisch-ukrainischen Grenze zu den Ersten, die gekommen waren, um Verwandte abzuholen. Beim Nachrichtensender ntv waren bald darauf Bilder von der herzlichen Begrüßung der Familie zu sehen, Ioan selbst und Irina wurden interviewt.
Geflüchtete aus der Ukraine in Bad Nauheim: Auf engem Raum, aber glücklich
In Bad Nauheim zählten sie zu den ersten hier eintreffenden Kriegsflüchtlingen, und sie konnten schon nach wenigen Tagen in eine kurzfristig wieder instand gesetzte Unterkunft aus dem Bestand der Bad Nauheimer Wohnungsbaugesellschaft ziehen. Auf einigermaßen engem Raum, doch glücklich über das Zusammensein, leben hier nun Olena (52), ihre Töchter Irina, Vera, Yana und Liubov, die Enkel Daria, Yehor, Alona und Nikita, Irinas Freundin Viktoriia mit ihren Töchtern Mariia und Anastasiia und der 15-jährige Roman, für den Liubov das Sorgerecht übernommen hat. Olenas sechste Tochter lebt in Frankfurt bei einer Freundin, Olenas vier Söhne kämpfen ebenso wie die Schwiegersöhne in der Ukraine für die weitere Unabhängigkeit des Landes.
Schule für die Kinder, Sprachunterricht für die Erwachsenen – ebenso wie Olenas Kinder und Enkel versuchen viele der Kriegsflüchtlinge, ihren Tagen möglichst bald wieder feste Strukturen zu geben. Am 16. März startete der gemeinnützige Verein Interkulturelle Kompetenz und Integration (IKI) den ersten ehrenamtlich organisierten täglichen Sprachkurs für Erwachsene. Binnen drei Tagen waren die verfügbaren 15 Plätze besetzt, für den zweiten, am 28. März beginnenden Sprachkurs sind schon neun Anmeldungen eingegangen. „Wir bekommen Anfragen sogar aus Frankfurt, Offenbach oder Mannheim, obwohl von da aus ein Kursbesuch bei uns keinen Sinn macht – das Interesse am Deutschlernen, daran, sich in die Gesellschaft zu integrieren, ist riesig“, erzählt Emine Antolic, die für IKI die Sprachkurse mit koordiniert.
Geflüchtete aus der Ukraine in Bad Nauheim: Erster Stadtrat lobt großes Engagement
Am heutigen Freitag um 15 Uhr wird unter der Leitung von Michaela Mos das „Internationale Café“ neu starten, das der Verein IKI bereits von 2015 bis 2017 wöchentlich angeboten hat. Gemeinsam mit der evangelischen Kirchengemeinde Bad Nauheim plant der Verein einen Ostercafé am 18. April in der Wilhelmskirche.
Erster Stadtrat Peter Krank als zuständiger Dezernent weiß das Engagement von IKI und etlicher anderer Vereine, Institutionen, Privatpersonen in Bad Nauheim zu schätzen. In den ersten drei Wochen hat die Stadt über 200 privat zugereiste Ukrainerinnen und Ukrainer registriert – mehr als jede andere Wetterauer Kommune. „Tatsächlich gab und gibt es aber auch Wohnungsangebote von privat, es kommen täglich Anfragen, was gebraucht wird. Die Hilfsbereitschaft ist enorm – ich bin sehr froh und dankbar für diesen Einsatz unserer Bürgerschaft“, betont Krank. Für übernächste Woche soll der 2015 etablierte Runde Tisch wieder einberufen werden, um die vielen Angebote und Ressourcen effizient zu steuern.
Erster Stadtrat lobt großes Engagement für Ukraine-Flüchtlinge: Verhandlung für 300 weitere Plätze
Die Stadtverwaltung hat ebenfalls umgehend auf die Situation reagiert. Flüchtlingskoordinator Aydin Yilmaz wird eine Mitarbeiterin zur Seite gestellt für die Übernahme der administrativen Aufgaben, er selbst soll sich um die Unterbringung der Ukrainerinnen und Ukrainer kümmern: Ab sofort muss sich die Stadt auf wöchentliche Zuweisungen von jeweils 19 Personen einstellen. In der kurzfristig instand gesetzten Unterkunft stehen insgesamt 30 Plätze bereit, für weitere 300 Plätze verhandelt die Stadt über die Nutzung einer leer stehenden Gewerbe-Immobilie.
Der offizielle und private Bedarf an manchen Gütern ist im Zuge des Flüchtlingszustroms stark gestiegen. Im Secondhandkaufhaus Bad Nauheim sind waschbare Bettdecken und Kopfkissen ausverkauft, Hand- und Badetücher sowie Waschlappen sind knapp, ebenso Besteck und Bettwäsche, Kaffeemaschinen und Wasserkocher. Spenden (bitte nur saubere und gebrauchsfähige Artikel) werden jeden Mittwoch zwischen 16 und 18 Uhr entgegengenommen, Verkauf ist donnerstags von 18 bis 20 und samstags von 14 bis 17 Uhr. Die Kleiderkammer des Zonta Clubs Bad Nauheim-Friedberg (Telefonnumme 0 60 32/92 78 48) bietet speziell für ukrainische Flüchtlinge einen Sondertermin mittwochs von 12.45 bis 14 Uhr. Die Stadt Bad Nauheim sucht weiterhin vor allem Wohnraum jeder Größe. Angebote bitte an Aydin Yilmaz unter der Telefonnummer 0 60 32/34 32 25 oder per E-Mail an aydin.yilmaz@bad-nauheim.de. (Hedwig Rohde)