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Bad Nauheim: 62 Jahre lang »ganz Ohr« - Christel Flor blickt zurück

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Von: Hanna von Prosch

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Lange ist’s her: Christel Flor vor dem Foto-und Optik-Geschäft ihres Schwagers Walter Boelke in der Parkstraße. © pv

Christel Flor hat sich einst als eine der ersten Frauen dazu entschieden, Hörgeräteakustikerin zu werden. Mit 90 Jahren blickt sie zurück auf die Anfänge und Entwicklungen ihres Berufslebens.

Man muss mit der Zeit gehen: Diese Überzeugung begleitet Christel Flor, Seniorchefin im Bad Nauheimer Familienunternehmen Boelke, ihr Leben lang. Sie war in den 60er Jahren eine der ersten Hörgeräteakustikerinnen und begehrte Fotografin. In diesem Jahr ist sie 90 geworden, so alt wie das Unternehmen selbst.

Als wir einen Gesprächstermin ausmachen, bin ich überwältigt von der frischen, dynamischen Stimme am Telefon. Und dann steht mir eine Dame gegenüber, die äußere und innere Haltung zeigt, fortschrittlich und topfit. Sie hat immer noch die natürliche Herzlichkeit, die ich aus meiner Kindheit von ihr kenne, wenn sie Kunden begrüßte. Während wir uns an einem der Verkaufstische unterhalten, kommen Menschen auf sie zu: »Schön, dass ich Sie mal wieder sehe.« Und sie nimmt sich Zeit für ein paar verbindliche Worte. So wie immer - bis Corona kam. Seitdem ist Christel Flor endgültig aus dem Geschäft ausgeschieden, aber ihr Geist weht noch überall.

Christel Flor aus Bad Nauheim: Lehre zur Kontoristin ab 1946

1946 begann die jüngste Tochter aus dem Steinmetzgeschäft Frank eine Lehre als Kontoristin bei Foto und Optik Boelke. Die Zeiten für ein Studium waren nicht gegeben. Ihre Halbschwester Anna hatte Walter Boelke geheiratet und die kleine Christel oft ins Geschäft mitgenommen. »Mein Schwager war eine Respektsperson erster Güte«, sagt sie noch immer mit Achtung. Anna redete viel mit ihr Englisch und schon bald übersetzte sie für Kunden die Handhabung von Kameras. So kam sie zunächst zur Fotografie, entschied sich aber letztendlich für die Hörgeräteakustik.

»Ende der 50er Jahre kamen Herren von Industrieunternehmen zu uns, die Hörgeräte-Sprechtage in unseren Räumen abhalten wollten. Die Branche kam gerade erst auf. Fachleute gab es noch nicht«, erzählt sie. »Mich interessierte das sofort und ich spitzte die Ohren. Schließlich kamen die Kunden mit ihren Fragen auch in der Zeit zwischen den Sprechtagen. Da musste ich weiterhelfen.« Boelke war weitsichtig und hatte Vertrauen: »Er erlaubte mir, Lehrgänge zu besuchen.« Im Januar 1964 machte Christel Flor in Würzburg ihren Abschluss als eine der ersten Hörgeräteakustikerinnen. Seit 1972 werden Gesellen, Meister und Ingenieure in der Akademie in Lübeck ausgebildet.

Christel Flor aus Bad Nauheim: Ab 1984 Lehrlinge ausbilden

Daraufhin erweiterte Boelke das Geschäft, und schon bald mussten mehr Mitarbeiter eingestellt werden. Christel Flor war inzwischen junge Mutter von drei Kindern. In dieser Zeit liefen Fotografie und Hörgeräteakustik, was häufig mit Reisen und Fortbildungen verbunden war, parallel. Ab 1984 durfte sie mit dem Meisterstatus auch Lehrlinge ausbilden.

Für Christel Flor war es wichtig, den Kunden zuzuhören und sie ernst zu nehmen, denn sie wusste, diese Menschen haben ein großes Problem, weil sie durch ihre Schwerhörigkeit vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen waren. »Einmal kamen drei Brüder ins Geschäft, die nichts mehr hörten. Sie hatten sich nur noch über Lichtzeichen verständigt. Es war so bewegend für mich, als sich diese schwer vom Schicksal getroffenen Männer unter Tränen bedankten, dass sie mit den Geräten wieder etwas hören konnten«, erzählt sie.

Christel Flor aus Bad Nauheim: Anfangs waren es Kästen vor der Brust

23 Jahre lang besuchte sie auch jede Woche die Klassen in der heutigen Schule für Hör- und Sprachbehinderte in Friedberg, um dort die Geräte und Funkanlagen zu überprüfen.

So hat sie die Entwicklung der Hörgeräteakustik quasi von Anfang des neuen Handwerkszweigs an mitgemacht. Die ersten Geräte waren Kästchen, die vor der Brust getragen wurden und per Kabel mit dem Knopf im Ohr verbunden waren. Dann kamen die Hörbrillen, hinter denen man die klobigen und noch sehr einfachen Geräte verstecken konnte. Schließlich die Hinterohrgeräte und Innenohrgeräte, alles mit viel handwerklicher Arbeit verbunden. »Für mich war es immer das schönste, wenn die Kunden zufrieden den Laden verließen«, resümiert Flor.

Sie scheute sich auch nicht vor der Digitalisierung und lernte noch, die Geräte zu programmieren. Das Vertrauen »s’Christel’sche kann das« begleitete sie bis ins Alter. Dass sie selbst seit vielen Jahren Hörgeräte trägt, hat sie einem Zufall zu verdanken. Bei einem Test für eine Infoveranstaltung stellte sie eine Frequenzlücke fest und machte gleich Nägel mit Köpfen. »Sonst könnte ich mich mit Ihnen so nicht mehr unterhalten«, betont sie selbstbewusst.

Christel Flor aus Bad Nauheim: Enkel ist in ihre Fußstapfen getreten

Mutig packte sie auch 1980 mit ihrem Mann Otto den Erwerb des Geschäftshauses in der Parkstraße an, renovierte, erweiterte. Heute ist sie glücklich, dass ihr Enkel Alexander in ihre Fußstapfen getreten ist und Enkel Florian Optikermeister wurde. »Die Jungen machen das gut. Da kann ich ruhig meine Bücher lesen und mit dem Hund spazieren gehen, die Blumen versorgen und für die Familie Strümpfe und Eintrachtschals stricken.« Christel Flor ist zufrieden.

Info: Die Geschichte mit Elvis und König Saud I.

Auch als Fotografin hatte Christel Flor prominente Kundschaft. Neben der Produktfotografie wurde sie oft für Portraits gerufen. Davon erzählt sie: »Als König Saud 1959 in Hilberts Parkhotel weilte, holte mich die Direktion zu einem Fototermin mit dem Herrscher und seinem Hofstaat. Aber ich war die einzige Frau dort und musste deshalb den Saal verlassen. Und die Brille, die König Saud bei uns anfertigen ließ, durfte ihm nur sein Leibarzt anpassen.« Viel lockerer ging es bei einem Presseshooting mit Elvis Presley 1958 zu. Zwei deutsche Journalisten tranken Bier, Flaschen standen auf dem Tisch. Da sagte Elvis, auf sein Image bedacht, zu ihr: »Baby, watch the beer bottles, please.« Elvis sei sehr charmant gewesen, erinnert sie sich an diese Begegnung. Später interviewte sie ihn sogar einmal.

Die professionelle Fotografie gab sie auf, als die Nachfrage im Fotobereich zurückging. Noch lange aber fotografierte sie besonders gerne Blumen in Makroaufnahme und machte Kinderportraits. Ihre Motivation: »Für manche Eltern waren das die einzigen Bilder, die sie von ihren Kindern hatten. Ich habe sie gerne verschenkt, und konnte damit Freude machen.«

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Christel Flor ist glücklich, dass mit ihren Enkeln, dem Augenoptikermeister Florian Spuri (l.) und dem Hörgeräteakustikmeister Alexander Flor, der Familienbetrieb weitergeht. © Hanna von Prosch

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