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Von: Manfred Merz

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Wie sieht wohl das »Leben mit einem Idioten« aus? Die zeitgenössische Oper von Alfred Schnittke liefert im Stadttheater polarisierende Antworten. Sensible Gemüter gehen in der Pause. Alle andern haben an dieser Groteske ihren Spaß.

Bei der letzten Musiktheaterpremiere in dieser Spielzeit kommt es im Stadttheater dicke. Es geht um Missbrauch, Irrsinn, Tod. Auf dem Programm steht die zeitgenössische Oper des Deutschrussen Alfred Schnittke aus dem Jahr 1992: »Leben mit einem Idioten«. Viktor Jerofejew erzählt im Libretto nach seiner gleichnamigen Novelle von einer Diktatur im Sowjetreich, von gesellschaftlicher Unterdrückung und vom brutalen Mord mithilfe einer Gartenschere. Die Handlung verläuft nicht linear, sondern arbeitet mit Rückblenden und Zukünftigem, weshalb die Oper gleich die herbe Schlussnote an den Beginn stellt: den abgetrennten Kopf der Ehefrau.

Ausstatter Lukas Noll hat für diese Groteske ein feines Bühnenbild gezaubert, das mit schwarz-silbernen Vorhängen Kellerräume skizziert und mit verschiebbaren Prospektabschnitten Raum und Zeit miteinander verquickt. Das erste Bild enthält die schönste Pointe: Das Publikum blickt von oben in die Wohnung des Ich genannten Schriftstellers und seiner Frau. Zu sehen ist als kreisrunder 3-D-Prospekt das Arbeitszimmer mit Lenin-Bild an der Wand und einer gemalten Schreibmaschine auf dem gemalten Tisch samt gemaltem Bücherregal. In der Mitte ist die Sicht freigegeben auf das Schlafzimmer darunter. Hier liegt das Paar zerstritten im Bett. Es muss in diesem senkrechten Bett stehen, um das Liegen zu zeigen, da man ja von oben auf die Szenerie schaut.

Am Text reiben sich die Gemüter. Das Derbe und Rohe, das in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dem Theaterpublikum skandalträchtig zusetzte, gelingt in Gießen ansatzweise auch heute noch. Die Fäkalsprache, der Zynismus, die Sexszenen und vor allem die Gewalt sind nichts für sensible Gemüter. Doch Regisseur Georg Rootering verschont das Publikum mit einer drastischen Darstellung. Beim Penetrieren bleiben alle hübsch angezogen und es muss auch niemand um kurz nach neun aufs Stichwort seinen Darm entleeren. Gleichwohl handelt es sich um Scheißkerle da vorn auf der Bühne, da gibt es kein vertun. Weshalb nach der Pause einige weitere Sitze im nicht ausverkauften Großen Haus leer bleiben.

Rooterings Inszenierung setzt auf Humor. Er konterkariert damit die Brutalität. Ein Beispiel: Bei dem Riesenpenis, der von der Decke herunterbaumelt, handelt es sich um Medizinbälle in einem Netz, die den vermeintlich sportlichen Aspekt des erektilen Spiels verdeutlichen, wenn der Idiot Wowa sich die Bälle zwischen die Beine klemmt und versucht, damit seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen.

Auch die Musik polarisiert. Es gibt wenig Haltepunkte fürs Ohr. Zu Beginn steht eine Reminiszenz an Bach und weiter hinten wird Tschaikowsky zitiert. Mussorgsky darf nicht fehlen. Strawinsky auch nicht. Der eingebaute Tango, den Schnittke seinem eigenen Concerto grosso No. 1 aus dem Jahr 1977 entliehen hat, zerfranst am Ende ins Atonale. Das ist die Crux der als Polystilistik bezeichneten Kompositionskunst. Sie wird zu selten greifbar, bleibt lieber impulsiv und laut.

Kapellmeister Martin Spahr hat für den erkrankten Generalmusikdirektor Michael Hofstetter bei der Premiere am Samstag die Leitung übernommen und hält das Philharmonische Orchester Gießen auf Kurs. Obwohl im Graben lediglich ein Kammerensemble sitzt, stellt Schnittke den fünf ersten Geigen drei Bässe gegenüber. Die Bläser sind einstimmig besetzt, machen aber massiv Radau. Auch Schlagwerk und Synthesizer rumoren mitsamt einigen Samples munter vor sich hin.

Gabriel Urrutia (Ich) hat im Stadttheater in der vergangenen Spielzeit mit der Oper »Gegen die Wand« seine Visitenkarte abgegeben. Er strotzt nur so vor Power. Zu singen hat er diesmal in etwa das enorme Pensum eines Hans Sachs, nur dass Wagner seine »Meistersinger von Nürnberg« doppelt so lang konzipiert hat. In den zwei Stunden aus dem »Leben mit einem Idioten« steht Urrutia fast ständig aktiv auf der Bühne.

Annika Gerhards (Frau) zeigt sich gut disponiert. Bis zum dreigestrichenen F ist ihre Partie notiert und hier und da mit einem Schlenker nach oben versehen. Soll heißen: Die Sopranistin darf an dieser Stelle so weit hinauf wie möglich, was bei Gerhards das dreigestrichene Gis bedeutet. Auch mimisch meistert die junge Solistin ihre Rolle – sie wird schwanger, treibt ab und stirbt durch Wowas Wahn.

Bernd Könnes haucht dem Idioten Wowa (Lenins Kosename) solides Leben ein. Den einzigen Laut, den der rot gekleidete Tenor (mit Hammer und Sichel auf der Unterhose) während der gesamten Oper von sich gibt, ist ein »Äch!«. Das gelingt Könnes in allerlei Schattierungen. Dem Publikum bereitet er am meisten Spaß.

Tomi Wendt gibt einen feisten Wächter, Grga Peros den bedauernswerten Marcel Proust. Der Chor des Stadttheaters (Einstudierung: Jan Hoffmann) macht als auf alt getrimmte Rollatoren-Gang was her. Die vielstimmigen Passagen sind eine Klasse für sich. Und die Statisterie versieht in der Irrenanstalt einen kirren Job.

Wer sich in dieser Spielzeit an liebreizenden Melodien, an Kadenzen und Rezitativen sattgehört hat und den skurrilen und morbiden Inhalt des »Idioten« verkraften kann, darf sich das surreale Werk nicht entgehen lassen. Freunde der Repertoirestücke werden womöglich ihre Probleme damit haben. Unvoreingenommene Besucher lachen in der neuen Inszenierung an den richtigen Stellen, obwohl es sich bei genauer Betrachtung doch um Galgenhumor handelt. Langer, intensiver Applaus vom Publikum.

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