So lief der letzte Besuch von Helmut Kohl in Gießen
Es war eine der größten Veranstaltungen, die die Kongresshalle je gesehen hatte: 1995 sprach Bundeskanzler Helmut Kohl in Gießen. Das Drumherum war denkwürdig.
20 nach fünf, ungefähr 400 Leute stehen noch vor dem Haupteingang der Gießener Kongresshalle. Doch es geht nicht weiter, die ausgiebigen Leibesvisitationen am Eingang kosten viel Zeit. Was soll's: Die Säle im Inneren sind ohnehin schon fast am Überlaufen. Bald darauf wird die Kongresshalle aus allen Nähten platzen, mehrere hundert Leute müssen draußen bleiben. Der Anlass für die große Aufregung: Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl ist gekommen, um auf der größten Wahlkampfveranstaltung der heimischen CDU vor der anstehenden Landtagswahl zu sprechen. "Im Hessenland muss es bessser werden. Und dafür ist Manfred Kanther der richtige Mann", sagt Kohl, der kurz zuvor mit dem Hubschrauber in Gießen gelandet war. "Es war einer der wenigen Termine in Gießen, bei dem ich bisher meinen Presseausweis vorzeigen musste und am Eingang durchleuchtet wurde", erinnert sich GAZ-Redakteurin Karen Werner, die vor 22 Jahren den Wahlkampfauftritt des damaligen Bundeskanzlers in Gießen miterlebte und einen Artikel über Kohls Besuch für diese Zeitung schrieb. Auch daran habe man gemerkt, dass einer der wichtigsten Deutschen zu Gast in Gießen gewesen ist - entsprechend hoch seien die Sicherheitsmaßnahmen auch damals schon gewesen.
Vor der Tür waren Anhänger, Demonstranten und unzählige Polizisten. Letztere sollen für einen möglichst störungsfreien Ablauf der Veranstaltung mit dem Bundeskanzler sorgen. Wie das abzulaufen hat, wurde den Verantwortlichen vor Ort von Polizeibeamten aus Wiesbaden und Bonn einige Wochen vor dem Abend anhand einer Checkliste generalstabsmäßig klargemacht. Da wurde der Fahrtweg zur Kongresshalle minutiös festgelegt, wie auch die Aktion mit den Hunden, die Sprengstoff erschnüffeln können. Verlangt wurde ein Notarztwagen mit genügend Blutkonserven, für den Fall, dass das Sicherheitsnetz doch einen Verrückten durchlassen würde. Wo ist die Toilette? Und auch weniger ernste Dinge wurden mitgeteilt: Etwa, dass der hohe Gast sehr starken Kaffee und stilles Mineralwasser trinken und auch genau wissen möchte, wo er sich nach dem Genuss derselben erleichtern kann. Und dann doch zumindest der Ansatz eines Zwischenfalls: Zwei Jugendliche - eine 16-Jährige aus Hungen und ein 15-Jähriger aus Gießen - werden von der Polizei vorübergehend in Verwahrung genommen. Sie hatten 14 Eier dabei, dazu eine Tränengasdose. "Die Eier blieben übrigens unbeschädigt", hieß es in der Gießener Allgemeinen Zeitung am Tag danach. Der Bundeskanzler selbst spricht derweil schon in der Kongresshalle: Für das "Geschenk der Einheit" müsse jeder einzelne Opfer bringen, damit die Staatsverschuldung nicht weiter wachse, begründete der Bundeskanzler die Notwendigkeit von Solidaritätszuschlag und weiteren Steuern. In diesem Jahr, 1995, erwarte er aber einen ökonomischen Aufschwung. "Dann sind wir auch in den neuen Ländern aus dem Gröbsten heraus." "Mich stört ihr Geschrei nicht" Die Zwischenrufe der Wenigen, die ihm im Inneren der Kongresshalle nicht wohl gesonnen sind, kommentiert Helmut Kohl mit seinem Standardspruch: "Nachhut der sozialistischen Völkerwanderung!" Und: "Politik ist keine Aufwärmstube für pubertäre Regungen. Mich stört ihr Geschrei nicht." "Als ich Helmut Kohl live in der Kongresshalle sprechen hörte, habe ich verstanden, warum er Karriere gemacht hat. Die meisten großen Politiker haben etwas, ist es Charisma oder rhetorisches Wissen? Das galt auch für Kohl, selbst wenn man politisch nicht mit allem einverstanden war, für das er stand", erinnert sich GAZ-Redakteurin Karen Werner am heutigen Freitag – dem Tag, an dem der "Kanzler der Einheit" im Alter von 87 Jahren nach langer, schwerer Krankheit in seinem Haus in Ludwigshafen verstorben ist.