Gießener Historiker: »Putin ist ein schlechter Geschichtslehrer.«

Kurz vor Kriegsbeginn in der Ukraine gibt Putin in einer Rede sein Geschichtsverständnis wieder. Der Gießener Historiker Thomas Bohn hält das für Propaganda.
Am 21. Februar, drei Tage bevor Russland einen Krieg mit der Ukraine beginnt, hält Wladimir Putin eine Rede an die Nation. An deren Ende erkennt er die Unabhängigkeit der ukrainischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk an. Am Anfang der Rede jedoch lässt sich der Autokrat Zeit, um die Geschichte der Ukraine in Abrede zu stellen. Darin hebt er besonders die enge Verbindung zu Russland hervor. Laut Thomas Bohn, Historiker für Osteuropäische Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen, ist diese Geschichtslektion des russischen Herrschers jedoch zu Propagandazwecken verkürzt: »Putin ist ein schlechter Geschichtslehrer.« Dass sich der russische Präsident als Geschichtswissenschaftler gibt, sei jedoch nicht neu.
Gießener Historiker: Putin verbreitet Geschichtsmythen
»Putin versteht sich als Historiker«, sagt Bohn. Dabei habe der russische Präsident bereits in der Vergangenheit mit Geschichtsmythen russische Machtansprüche zu rechtfertigen versucht. »Er hat zum Beispiel in die Verfassung eine tausendjährige Kontinuität von russischer Staatlichkeit festschreiben lassen.« Das sei geschichtswissenschaftlich aber nicht zu halten. Vielmehr beziehe sich Putin damit auf eine Zeit zurück, in der Belarus, Ukraine und Russland noch gar nicht als getrennte Nationen bestanden. Er versuche dadurch aber den Anspruch Russlands auf diese Gebiete zu legitimieren.
Gießener Historiker: Ostslawen nannten Wikinger »Rus«
Um das zu verstehen, muss man einen Blick in die Geschichte der Region werfen. Im 9. Jahrhundert haben Wikinger Handelsrouten von Skandinavien aus nach Konstantinopel aufgebaut. Eine Gruppe dieser Fernhandelskaufleute sei unter dem finnischen Wort für Ruderer bekannt gewesen und sei von den Ostslawen »Rus« genannt worden. »Von diesen Leuten leiten die Russen ihren Namen ab«, sagt Bohn. In den Chroniken wird der Fürstensitz Kiew als die »Mutter der russischen Städte« bezeichnet. »Die Sache hat nur einen Haken«, führt Bohn weiter aus. Eine Ausdifferenzierung der Ostslawen in Russen, Ukrainer und Belarusen erfolgte erst im 16. Jahrhundert. Aus heutiger Sicht können daher drei ostslawische Staaten, nämlich Russland, Ukraine und Belarus, auf das Erbe der Kiewer Rus Anspruch erheben. Für Putin seien jedoch alle Kiewer Fürsten »russische« Herrscher gewesen.
Gießener Historiker: Niedergang der Kiewer Rus
Nach dem Niedergang der Kiewer Rus sei das Gebiet der Ostslawen im 13. Jahrhundert in einen westlichen und einen östlichen Teil zerfallen, erklärt Bohn. Der eine Teil geriet unter den Einfluss der polnisch-litauischen Union, der andere wurde vom Großfürstentum Moskau dominiert, das wiederum der Tributherrschaft der Mongolen ausgeliefert war. Das Zarenreich konstituierte sich erst unter Iwan dem Schrecklichen in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Daraus ging dann unter Peter dem Großen im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts das Russländische Imperium hervor, das seitdem beansprucht, eine europäische Macht zu sein.
Gießener Historiker: »Putin versucht seinen Angriffskrieg mit historischen Argumenten zu rechtfertigen.«
Die Gebiete der heutigen Ukraine unterstanden seit dem 16. Jahrhundert teilweise Polen-Litauen und dem Habsburgerreich, teilweise dem Zarenreich. Vertreter der ukrainischen Nationalbewegung konnten sich aber auf den um Autonomie ringenden Kosakenstaat des 17. Jahrhunderts berufen, als sie 1918 eine Volksrepublik ausriefen, sagt Bohn. In seiner Rede kritisierte Putin insbesondere Lenin, der im Frieden von Brest-Litowsk 1918 zunächst einen Teil der Ukraine preisgab und dann die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik mit kultureller Autonomie ausstattete. Putin stört sich daran, dass Lenin ein ukrainisches Nationalbewusstsein zuließ. »Daraus schließe ich, dass Putin weder an einer parlamentarischen Demokratie noch an einem föderalen System interessiert ist, sondern die Zentralisierung seiner Herrschaft anstrebt«, sagt der Historiker Bohn.
Putin weist mehrmals auf die gemeinsame Geschichte der Ukraine und Russland hin, aber immer unter dem Eindruck des russischen Anspruchs auf das Gebiet der Ukraine. Er nutze Geschichtsmythen als Propaganda. Bohn: »Putin versucht so seinen Angriffskrieg mit historischen Argumenten zu rechtfertigen.«