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»Mit herzlichen Grüßen aus Lindenstruth« kritisiert »Dauer-Stammtischleser« Roland Kühn die »unangemessene, übergewichtige Beachtung einer Alte-Herren-Mannschaft aus Süddeutschland«. Recht hat er. Ich bekenne mich schuldig. Zuletzt war dieses AH-Team auch bei mir überproportional vertreten. Als hätte ich Parkinsons Gesetz uminterpretiert: »Die Bedeutung des FC Bayern wächst stets in dem Maße, dass sie die zu ihrer Beschreibung zur Verfügung stehenden Zeilen ausfüllt.« Heute nicht!
Von GW
»Mit herzlichen Grüßen aus Lindenstruth« kritisiert »Dauer-Stammtischleser« Roland Kühn die »unangemessene, übergewichtige Beachtung einer Alte-Herren-Mannschaft aus Süddeutschland«. Recht hat er. Ich bekenne mich schuldig. Zuletzt war dieses AH-Team auch bei mir überproportional vertreten. Als hätte ich Parkinsons Gesetz uminterpretiert: »Die Bedeutung des FC Bayern wächst stets in dem Maße, dass sie die zu ihrer Beschreibung zur Verfügung stehenden Zeilen ausfüllt.« Heute nicht!
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Auch Karl Marx muss umformuliert werden. Ist Religion der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Opium des Volkes? Nicht in Frankfurt und um Frankfurt herum. Hier wird Fußball plötzlich zum Jubel der befreiten Kreatur, und das Opium der Fans ist der Speed eines rasenden Dreiecks. Allerdings wirkt Frankfurter Speed nur in Kombination mit Hasch. Korrekt japanisch ausgesprochen, stabilisiert, beruhigt und entspannt er aufgeregte Gemüter – Hasch ebe! Momentan gibt es die volle Dröhnung, sodass selbst eine Alte-Herren-Zeitung aus Süddeutschland staunt, wie »high« die Eintracht ist: »Frankfurt schwebt über Europa« (SZ-Schlagzeile).
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Der Fan, das bekannte Wesen. Mal schwebt er, mal schlägt er. In den »Montagsthemen« behauptete ich, wer in der Masse zur brüllenden Affenhorde wird, gehöre zu mindestens 99 Prozent nur zu einem von allen denkbaren Geschlechtern. Ein paar Tage später machte die Zeit das Problem zu ihrem Titelthema: »Ist Aggression männlich?« Na klar, was denn sonst? Frauen holen allerdings auf, umso mehr, je gleichberechtigter sie werden. Dass Testosteron der Vater allen Übels ist, gilt auch daher nicht mehr als alleinige Wahrheit. Was die Lebenserfahrung bestätigt. Die weiß: Je größer der Haufen, desto größer die Aggression. Je kleiner, desto friedlicher. Und im Zweiergespräch schrumpfen selbst die größten Testosteron-Bolzen zu handzahmen Äffchen.
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Auf welcher Aggressions-Skala die pyromanischen Spielchen der Fans stehen, wird unterschiedlich bewertet. Für die einen gehören sie zur Folklore, die anderen (Polizei und einige Bundesländer) wollen das Abbrennen von Feuerwerkskörpern in Fußballstadien von einer Ordnungswidrigkeit zur Straftat erheben. Mich stört daran die Einschränkung auf Fußballstadien. Was dort gilt, muss auch in anderen öffentlichen Räumen gelten. Sondergesetze für bestimmte Personengruppen sind nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern das Allerletzte. Wer könnte das besser wissen als wir?
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Stichwort Aggressivität, Stichwort Wissen. In ein, zwei Wochen soll die letzte »Wer bin ich?« Runde 2018 folgen. Ein Rätsel-Text ist vorbereitet: Wenn mir einer auf die rechte Wange schlägt, halte ich ihm auch die linke hin. Denn ich gewinne, weil ich verliere. Nein, ich bin nicht Jesus. Ich verliere auch, wenn ich gewinne. Wenn ich zu oft verliere, verliere ich aber noch mehr. Dann muss ich gewinnen, um wieder als Verlierer gewinnen zu können. Wer bin ich?
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Aber die Frage wird nicht gestellt. Der Gesuchte wäre zu unbekannt, es gibt zu viele Namenlose seiner Spezies, die eine eigene Disziplin in einer Sportart betreibt, die fast als Synonym für Aggressivität gilt. Die aussortierte Frage stelle ich auch nur vor, weil Tyson Fury und Deontay Wilder an diesem Wochenende um einen von ... ach, was weiß ich vielen WM-Titeln im Schwergewicht kämpfen. Fury kennen wir, weil Klitschko ihn kennengelernt hat. Wilder, bei uns weitgehend unbekannt, weist einen beeindruckenden Rekord auf: Er gewann alle seine 40 Profikämpfe, davon 39 durch Knockout.
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Um einen der vielen Journeymen des Boxens wäre es bei WBI gegangen, um Suleyman Dag, der vor einem halben Jahr in einem Welt- Interview über sich und seine Profession auspackte. Dag arbeitet als (schönes deutsches Monsterwort) Metallbaukonstruktionsmechaniker und nur nebenberuflich als Aufbaugegner. Die müssen verlieren, um neu im Markt zu platzierenden Fightern die Bilanz aufzuhübschen. Dag verdient 100 Euro pro Runde. Wenn der Preis sinkt, weil er zu oft verliert, engagiert er seine eigenen Journeymen, die gegen ihn verlieren müssen. Danach darf er sogar WM-Kämpfe machen. Alle Gegner wissen, dass er verlieren muss. »Aber manche werden auch übermütig und versuchen, mich richtig zu hauen. Dann umarme ich die und sage: ›Beruhige dich mal. Du gewinnst doch sowieso, keep cool. Meistens klappt das.‹« – Herrlich. Wie viele Journeymen waren wohl unter Wilders Gegnern? Ich weiß es nicht. Ich tippe auf ungefähr 35.
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Schließlich noch eine Entschuldigung. Für die »brüllenden Affenhorden«. Eine böse menschliche Entgleisung. Vor einigen Tagen stand ich im Frankfurter Zoo fasziniert vor einem gewaltigen Gorilla, der wie eine Statue hockte und sinnend in die Ferne sah, Glotzer wie mich hinter der Glasscheibe souverän ignorierend. Ich sah ihm bei der minutenlangen Unbewegtheit zu, sah seinen sinnenden Blick ins Irgend- und Nirgendwo und dachte: Du wunderst dich, was das alles soll, warum du hier bist, warum du überhaupt auf der Welt bist, wie das alles enden wird, und du fragst dich gleichzeitig, was es zum Abendessen geben mag. Du hast also den gleichen Erkenntnisstand wie ich, wie wir alle, auch die größten Menschendenker. Vielleicht reift in deinem Kopf sogar schon eine schemenhafte Ahnung. Von allem. Nicht nur vom Abendessen, wie bei mir. (gw)
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(www.anstoss-gw.de mit gw-Blog »Sport, Gott & die Welt« / Mail: gw@anstoss-gw.de)