Edelmetall vor Augen

Holt Harold Kreis gleich bei seiner ersten WM als Eishockey-Bundestrainer die erste Medaille seit 70 Jahren? Seine Spieler wollen diesmal nicht ohne nach Hause fliegen.
Beim Blick zurück in die Eishockey-Historie brauchte Harold Kreis ein wenig Hilfe. Aber als die deutschen Nationalspieler ihre letzte WM-Medaille gewannen, war der neue Bundestrainer ja auch noch gar nicht geboren. Kein Wunder, dass Kreis nichts von Silber 1953 wusste. »Okay, dann wär’s mal wieder Zeit«, sagte der 64-Jährige - und lachte.
Holt Kreis bei seiner ersten WM als Chefcoach gleich die erste deutsche Medaille seit 70 Jahren? Schafft er im ersten Anlauf, was 20 Bundestrainern vor ihm nicht gelang? Wenn es nach seinen Spielern geht - ja. »Es ist alles drin«, sagte der überragende Torhüter Mathias Niederberger nach dem 3:1 im Viertelfinale in Riga gegen die Schweiz - und nannte den Grund, warum die deutsche Mannschaft diesmal nicht ohne Edelmetall nach Hause fliegt: »Weil wir offensiv diese Nadelstiche setzen und wirklich den Gegner in den Wahnsinn treiben können.«
Diese Qualität eines Teams, dem nach einer Absagenflut kaum etwas zugetraut worden war, sollen im Halbfinale am Samstag (17.20 Uhr MESZ/Sport1 und MagentaSport) in Tampere die USA zu spüren bekommen. Wie der selbst ernannte Titelanwärter aus der Schweiz ein Gruppensieger der Vorrunde, und wie Stürmer Dominik Kahun attestierte, die Mannschaft, die »das schnellste Eishockey bei diesem Turnier« spielt.
Der Olympia-Silberheld von 2018 ist einer von zehn Spielern, die schon vor zwei Jahren - ebenfalls nach einem Triumph gegen die Schweiz in Riga - eine Medaille vor Augen hatten, die historische Gelegenheit aber nicht nutzten. »Es ist toll für uns, noch mal die Chance zu haben, es noch mal zu probieren«, sagte Kapitän Moritz Müller, »diesmal wollen wir was holen.«
Spieler wollen Trainer widerlegen
Und was? Plötzlich ist, was vor dem Turnier undenkbar schien, eine realistische Möglichkeit. »Im Moment können wir nicht Weltmeister werden, das wäre vermessen«, hatte Kreis im »BamS«-Interview vor dem WM-Start gesagt. Inzwischen hat er den Eindruck, dass seine Spieler ihn vom Gegenteil überzeugen wollen. »Wenn sie das gelesen haben, können sie das gerne beweisen«, sagte der Bundestrainer und fügte lachend an: »Ich gebe gerne zu, dass ich unrecht hatte.« Zwei der drei Favoriten, die er damals nannte, sind bereits ausgeschieden: Weltmeister und Olympiasieger Finnland sowie der elfmalige Champion Schweden. Kanada und die USA sowie der Halbfinal-Neuling Lettland sind die verbliebenen Konkurrenten. Am Sonntag steigen das Spiel um Bronze (14.20 Uhr) und das Finale (19.20 Uhr/jeweils Sport1).
Dass die Auswahl des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) zum dritten Mal seit dem Erfolg 1953 wieder eine Medaille vor Augen hat, ist Kreis’ Werk. Der Routinier, von Kritikern nach seinen jungen Vorgängern Marco Sturm und Toni Söderholm als Rückschritt bewertet, hat alle Vorurteile widerlegt. Weder setzt er auf Defensiv-Eishockey, noch gibt er jungen Spielern keine Chance. Im Gegenteil: Neben den NHL-Profis Nico Sturm, John-Jason Peterka und Moritz Seider übernehmen auch Neulinge tragende Rollen.
Wenn plötzlich einer wie Seider, der unbestritten beste Spieler des Teams, wie gegen die Schweiz mit einer Strafe ausfällt, »macht der nächste ein bisschen mehr«, meinte Kreis: »Es ist ein Zusammenrücken.« Sein Puls werde nie dreistellig, behauptete der Coach, »die Leistung stimmt, der Einsatz stimmt. Es gibt überhaupt nichts, über das ich mich aufregen muss.« Ganz so cool war Kreis nach dem emotionalen Sieg gegen die Schweiz aber doch nicht. Beim Interview mit MagentaSport waren seine Augen feucht, und die Stimme stockte.