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Das deutsche Spiel ist dechiffriert

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Von: Redaktion

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Im DFB-Team fehlt eine ausgewogene Mischung aus Erfahrung, Stabilität und Abenteuerlust. Das ist die Folgerung aus dem schwachen deutschen Auftritt gegen Mexiko. Ein Hirnforscher aus Tübingen könnte helfen. Doch wird der Bundestrainer auf ihn hören?

Es gibt sechs Special Coaches für Körper und Geist im üppigen Begleittross der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, vier Teamärzte, vier Physiotherapeuten, vier Scouts und noch eine Menge mehr dienstbare Geister. Ein Hirnforscher fehlt allerdings als Ratgeber für Joachim Löw. So muss die Übermittlung der bedeutendsten Informationen nach dem erschreckenden 0:1 zum WM-Auftakt gegen Mexiko auf diesem Weg geschehen. Der Bundestrainer liest ja mitunter sogar den Pressespiegel und könnte somit nun erfahren, was Professor Doktor Hans-Peter Thier aus der Heimat wissen lässt.

Der 65-Jährige ist Neurobiologe am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen und ahnt als Fachmann, warum vieles aus deutscher Sicht gegen Mexikaner, die wie auf Speed auf dem Feld herumliefen, so träge und nachlässig aussah: »Wir führen Bewegungen mit maximalem Einsatz aus, wenn das Ziel neu und wichtig ist. Aber Bekanntes wird schnell langweilig, die Bewegung verliert an Bedeutung und wird nicht mehr mit dem nötigen Einsatz ausgeführt.« Klingt in der Tat treffend für das, was 26 Millionen ziemlich entgeisterten deutschen Fans vorm Fernsehen vom Weltmeister dargeboten wurde.

Die logische Konsequenz aus dieser Argumentation, der sich vermutlich auch der Teampsychologe Hans-Dieter Hermann anschließen kann, wäre vor dem Spiel am Samstagabend in Sotschi gegen Schweden eine personelle Rochade: Löw müsste einige der in ihrer Gehirn- und damit auch Arbeitsleistung gehemmten Spieler austauschen gegen Burschen, deren Eigenmotivation laut moderner Hirnforschung die Konkurrenz der Alten nicht scheuen muss. Sie müssten dann halt noch gut genug Fußballspielen können, was beispielsweise ein junger Mann wie der Primus des Confederation Cups, Leon Goretzka, mehrfach schon bewiesen hat.

Einen Tag, bevor der aus insgesamt 111 Personen bestehende deutsche Tross sich mehrheitlich nach Sotschi aufmachte, wo sich das Gros der Reisegruppe auf ein aus dem Sommer 2017 bekanntes Terrain begibt, machte der DFB alle Schotten dicht in Watutinki. Sogar eine für Montagmorgen fix angesetzte Pressekonferenz mit Philipp Lahm wurde kurzerhand abgesagt. Das sagt einiges über die sensible Situation im Baiscamp vor den Toren Moskaus. Der Kapitän des Weltmeisterteams 2014 ist als EM-Botschafter 2024 inzwischen so eine Art Gut-Wetter-Mann des DFB. Aber gutes Wetter passt derzeit nicht ins wolkige Binnenklima. Insoweit war die Absage nur konsequent.

Lahm, so viel darf vermutet werden, hätte eine Menge unangenehmer Fragen zu beantworten gehabt und begab sich stattdessen einzig auf eine Kinder-Pressekonferenz in der Deutschen Schule in Moskau. Er gab dort ein paar Durchhalteparolen zum Besten. Einer wie der 34-jährige sportliche Ruheständler wäre am Abend zuvor als Regulator in Stollenschuhen gegen maximal aufgedrehte Mexikaner hilfreicher gewesen als im beigen Jumper in der Aula.

Denn zumindest aus der Ferne der Medientribüne im Oberrang war drunten auf dem Feld kein deutscher Feldspieler sichtbar, der dem Spiel Orientierung und Ausgewogenheit hätte vermitteln können. Diejenigen, die seit Jahren als Führungsspieler vom Bundestrainer identifiziert worden sind, allen voran Thomas Müller und Sami Khedira, auch Toni Kroos, haben am Sonntag den Blick fürs große Ganze weitgehend verloren. »Es kann nicht sein«, schimpften die beiden Innenverteidiger Jerome Boateng und Mats Hummels inhaltlich fast wortgleich, »dass wir in einer Halbzeit in fünf Konter laufen. Wir haben tagelang drüber gesprochen, aber es immer noch nicht kapiert.« Das ist angesichts der Erfahrung von acht Weltmeistern in der Startelf umso bedenklicher.

Ist die Interpretation zu hart, dass diese Generation deutscher Spitzenfußballer ihren Zenit bereits überschritten haben könnte? Dass diese Spieler nach vier Jahren seit dem Titelgewinn, in denen sich das Tempo noch einmal extrem verschärft hat, nicht nur im Kopf zu langsam sind, sondern auch auf den Beinen? Dass einige dem jahrelangen Abnutzungskampf gerade Tribut zollen? Jedenfalls dann, wenn dem deutschen Team von seinem Bundestrainer weiterhin in dieser Konsequenz genau diese Spielweise verordnet wird. In ihrer brachialen Offensive ist grobe Fahrlässigkeit sozusagen eingepreist. Hinzu gesellt sich ein geradezu divenhaftes Verhalten nach verlorenen harten Zweikämpfen.

Der mexikanische Trainer Juan Carlos Osorio erläuterte routiniert, man habe das deutsches Spiel bereits vor einem halben Jahr decodiert und die eigene Spielweise entsprechend ausgerichtet. Insoweit war es nicht nur ein Mannschaftserfolg von Mexiko gegen Deutschland, sondern auch ein Trainersieg für Osorio gegen Löw. Der Bundestrainer und sein Assistenz- und Analystenteam wurden auf dem falschen Fuß erwischt. Mehrere deutsche Spieler offenbarten nach dem Spiel, man habe die Mexikaner viel offensiver in deren Pressingverhalten erwartet und sei auf eine reine Kontermannschaft nicht eingestellt gewesen.

Mexikaner hatten leichtes Spiel

Vorige Woche hat der DFB in einer Pressekonferenz stolz die Vorzüge seiner SAP-basierten Trackingsysteme vorgestellt, es ging um künstliche Intelligenz und Auswertung von Spieldaten in Echtzeit. Auf der Tribüne des Luschniki-Stadions saß Löws kundiger Assistent Marcus Sorg, per Headset verbunden mit dem weiteren Co-Trainer Thomas Schneider. Aber es gab 45 Minuten lang keine erkennbare taktische Anweisung, etwa an den viel zu offensiven Joshua Kimmich, sich in seinem Drang nach vorn mehr zurückzuhalten, Thomas Müller so mehr Spielwiese und dem Gegner weniger Raum zu geben.

Auch Sami Khedira und Toni Kroos unterließen es ein Halbzeit lang, die gesamte Balance zu verändern und mehr aus der Tiefe zu agieren. Insoweit sah es auch so aus, als hätte das Trainerteam eine auf dem Platz sichtbar überforderte Mannschaft im Stich gelassen. Es ist nur eine Vermutung, aber möglicherweise eine, über die sich nachzudenken lohnt: Verlaufen sich die Fachleute mitunter im Datendschungel so sehr, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen? Jeder nicht-lizenzierte Übungsleiter konnte doch schon nach der ersten Großchance nach 58 Sekunden erkennen, dass es angeraten schien, den Mexikanern nicht regelmäßig naiv ins offene gewetzte Messer zu rennen. Oder, wie es Manager Oliver Bierhoff richtig erkannt hatte: »Wir sind ihnen in die Falle gelaufen.«

Es gab nur diesen einen Plan A, dogmatisch und unflexibel, ohne Netz und doppelten Boden. Die Mexikaner hatten leichtes Spiel, den Ball immer wieder in den von Kroos und Khedira verlassenen Raum im Mittelfeld zu spielen und von dort aus in die riesige, im Rücken von Kimmich freie Fläche, wo der flinke Siegtorschütze Hirving Lozano sich genüsslich austoben konnte. Löw ist nun gefordert, eine Vermeidungsstrategie für gegnerische Konter zu entwickeln. Unmittelbar nach dem Schlusspfiff sagte er in der Pressekonferenz, er sei nicht bereit, im Angesicht der Niederlage »den Plan über den Haufen zu schmeißen. Wir werden deswegen nicht von unserem Weg abgehen«. Eine Trotzreaktion, die der erfahrene Mann hinter verschlossenen Türen besser noch einmal überdenken sollte.

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