Harald Stenger: Sauna, Stepi und Sarrasani
»So, von meiner Seite aus war’s das dann«. Harald Stenger hatte am späten Mittwochabend diesen Satz noch nicht richtig beendet, da fiel ihm Joachim Löw ins Wort. Es war die letzte Pressekonferenz unter der Leitung des Wetterauers, der elf Jahre lang für den Deutschen Fußball-Bund arbeitete.
»Ich möchte dir von tiefem Herzen ein ganz großes Dankeschön sagen. Deine Geradlinigkeit, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und insbesondere deine Loyalität waren immer vorbildlich«, sagte der Bundestrainer, ehe er Stenger unter dem Beifall der Journalisten herzlich und innig umarmte. Es war eine Szene, sinnbildlich für das Verhältnis der beiden untereinander – freundschaftlich, von gegenseitigem Respekt geprägt, mit Wehmut versehen. Und mit der einen oder anderen Träne aufseiten des scheidenden DFB-Mitarbeiters. Denn die Pressekonferenz nach dem Argentinien-Spiel war die letzte, die Harald Stenger moderierte. Nach 161 Länderspielen. Keine Partie verpasst, elf Jahre lang. Aus, vorbei, der Deutsche Fußball-Bund hat den Vertrag mit dem gebürtigen Frankfurter aus dem Stadtteil Bornheim nicht verlängert. »Jetzt tauche ich erstmal ab«, sagt der 61-Jährige, der seit fast einem Vierteljahrhundert in der Wetterau wohnt und 2001 von Gerhard Mayer-Vorfelder von der Frankfurter Rundschau als Mediendirektor in die DFB-Zentrale geholt wurde.
Für Harald Stenger war der Auftrag beim größten Sportverband der Welt eine Herzensangelegenheit, eine Berufung – kein normaler Job. Das Miteinander im Kreis der Nationalmannschaft bezeichnet der Journalist »wie bei einer Familie. Kein Wunder also, dass ihm der Abschied nach über einem Jahrzehnt sehr schwer fällt. »Es war ein großer Kraftakt am Mittwoch, die Beherrschung zu halten. Ich habe vorher schon gesagt: wenn die Tränen kommen, schäme ich mich nicht«.
Scharmützel mit Poldi
Es waren Spieler wie beispielsweise Lukas Podolski und Miroslav Klose, die den DFB für Stenger zur Familie gemacht haben. Die Scharmützel mit »Poldi« und »Miro« sind legendär, sie werden bei youtube tausendfach angeklickt.
»Da meine Frau nicht da ist, muss ich das Kuscheln mit Harald machen«, sagte Klose während einer Pressekonferenz bei der WM 2010 in Südafrika, und schob mit einem breiten Grinsen hinterher: »Aber da kann ich mir Schöneres vorstellen.« Warum er sich so wohl fühle in der Nationalmannschaft, wurde Podolski einst gefragt: »Mit Harald gehe ich ab und zu in die Sauna, aber daran wird es wohl nicht liegen«, antwortete der Ex-Kölner. Gerade die Saunaabende wird Stenger sehr vermissen, bei der EM zuletzt gehörten in Polen rund zehn Spieler zur schwitzenden Gemeinschaft. »Da hatten wir sehr viele gute Gespräche, nicht nur über Fußball«, sagt Stenger, der in Bezug auf die Akteure betont: »Ich hatte nie einen Lieblingsspieler. Ich war für jeden da, wenn er etwas Fachliches oder Menschliches wollte«.
Zu den Spielern hatte Stenger stets ein vertrauensvolles Verhältnis. Unter anderem Schweinsteiger und Co. setzten sich dafür ein, dass für den sympathischen Journalisten mit dem hessischen Dialekt beim DFB nicht schon nach der WM 2010 Schluss war. Zwar wurde ihm der Posten des DFB-Mediendirektors entzogen, führende deutsche Fußballjournalisten hatten sich aber damals für ihn stark gemacht und eine Petition unterschrieben. Weil sich auch Spieler und das Team um Joachim Löw und Oliver Bierhoff für Stenger einsetzten, blieb er wenigstens als Freier Mitarbeiter in DFB-Diensten und war fortan nur noch für die Männer-Nationalmannschaft zuständig. »Ich bin weltweit einer der dienstältesten Pressesprecher gewesen. Diese Aktion vor zwei Jahren hat international für Aufsehen gesorgt«, berichtet Stenger mit schwerer Stimme – denn nun kam das Aus, sein Vertrag wurde vom DFB nicht mehr verlängert.
Die Wucht der Reaktionen und die Darstellung des Abschieds in den Medien haben ihn sehr überrascht, erzählt der bodenständige Bornheimer. Rund 500 Anrufe, E-Mails und Kurznachrichten habe er erhalten. Einer der ersten Anrufe begann wie folgt: »Lebbe geht weider, hier ist der Steppi«, meldete sich Kulttrainer Dragoslav Stepanovic. In Frankfurt hielt unterdessen Mittelfeldspieler Sami Khedira in dieser Woche eine Lobesrede auf Stenger und betonte dessen »menschliche Vorzüge«, Abschiedsgeschenke kamen aus der ganzen Republik. Vielleicht das schönste organisierte er selbst: einen Nachmittag mit langjährigen Weggefährten auf einem Weingut.
Erlebt hat Harald Stenger in den elf Jahren eine ganze Menge. Höhepunkte waren sicherlich »seine« drei WM-Teilnahmen. Ein Geschenk des Himmels sei es gewesen, 2006 das Sommermärchen erlebt haben zu dürfen; ebenso wie 2010 das starke Auftreten des »Multi-Kulti-Teams«.
»Und 2002 hatte man uns gar nichts zugetraut, dann sind wir Vizeweltmeister geworden«. Ein kleines Mosaiksteinchen zu all den Erfolgen beigetragen zu haben, erfülle ihn mit Stolz und Dankbarkeit.
Besonders prägnant im Gedächtnis sind Stenger freilich die Szenen nach dem Viertelfinal-Spiel gegen Argentinien bei der WM 2006 in Berlin. Die Partie entwickelte sich zum Drama, Deutschland siegte im Elfmeterschießen. Danach verloren die Südamerikaner die Nerven. »Für den Pressechef ist der Platz tabu. Aber damals sind wir alle jubelnd auf den Platz gelaufen. Ich habe dann schnell gemerkt, dass sich um Oliver Bierhoff etwas zusammenbraut. Mit ausgebreiteten Armen habe ich mich vor ihn gestellt, als es ernst wurde. Im Drei-Sekunden-Takt habe ich Tritte von Argentiniern in die Beine gekommen, das war unfassbar«, beschreibt der 61-Jährige heute die Geschehnisse auf dem Rasen des Olympiastadions.
Abschalten in der Wetterau
Spätestens seit dieser Heim-WM vor sechs Jahren, mit der auch der Medienhype spürbar zunahm, ist Stenger der breiten Öffentlichkeit bekannt. Dabei kam es schon zu einigen lustigen Begegnungen, etwa bei einem Urlaub auf Fuerteventura. Oder als ihn jemand fragte: »Sind Sie der Bruder von Harald Stenger?« Bei der EM zuletzt in Polen und der Ukraine verulkten ihn die Kollegen von 1Live mit den Parodien einiger Pressekonferenzen unter dem Motto »Harry und Jogi«. »Man muss auch über sich selbst lachen können«, sagt Stenger, der von den Kollegen aufgrund der täglichen PKs bei großen Turnieren auch »Daily Harry« genannt wurde.
Doch im Fokus zu stehen, ist eigentlich gar nicht seine Art. Stenger arbeitet lieber hinter den Kulissen – das tat er sehr erfolgreich und gewissenhaft. Man habe ihn bedenkenlos nachts aus dem Bett klingeln können, sagte kürzlich Philipp Selldorf von der Süddeutschen Zeitung in einem Fernsehbericht. Der Workaholic hat den Pressekonferenzen elf Jahre lang ein Gesicht gegeben, hat die Pressearbeit des DFB professionalisiert. Und die Nationalmannschaft aus dem Würgegriff des Boulevard befreit, wie 11-Freunde-Chefredakteur Philipp Köster schreibt.
»Ich habe immer versucht, alle gerecht und gleich zu behandeln«, sagt Stenger. Das habe laut Köster entscheidend dazu beigetragen, dass das Image der Nationalmannschaft aufpoliert wurde.
Er dirigiere den Zirkus Sarrasani, hat Stenger mal gesagt und doppeldeutig gemeint. »Zum einen organisatorisch, weil wir überall auf der Welt unser Zelt binnen einer Stunde aufgestellt und technisch optimal versorgt mit der Arbeit loslegen können; und zum anderen, weil immer etwas Spektakuläres passiert«. Gesehen hat Stenger durch die vielen Auslandsreisen sehr viel – aber irgendwie auch so gut wie nichts. »Flughafen, Hotel, Stadion, Trainingsplatz«, beschreibt er die Zielorte. Faszinierend seien für ihn insbesondere zwei Dienstreisen gewesen. Vor drei Jahren die »Rückkehr« nach Shanghai, wo er 1985 für die Frankfurter Rundschau unterwegs war (»wie sich die Stadt verändert hat, war sehr spannend zu sehen«); und der Besuch der ehemaligen vier Quadratmeter großen Zelle von Südafrikas Ex-Präsident Nelson Mandela auf Robben Island während der WM 2010.
Den Gegensatz zum Trubel bei den großen Turnieren findet Stenger in der Wetterau. Dort kann er abschalten, sich in seinem Haus zurückziehen – aber auch die Vorzüge des dörflichen Lebens beim Metzger seines Vertrauens um die Ecke genießen. Stenger wird nun erstmal untertauchen, die Jobangebote sondieren – und Spanisch lernen. 2014 in Brasilien bei der nächsten Fußball-WM wäre er gerne dabei; in welcher Funktion, steht dabei noch in den Sternen. Auch wenn er erstmal von der Bildfläche verschwindet – zum letzten Mal in der Öffentlichkeit gesehen haben ihn die Kollegen am Mittwoch um 23.25 Uhr nicht. Um diese Zeit verließ Stenger den Pressekonferenzraum in der Frankfurter Arena, kurz nach der Umarmung mit Joachim Löw. Michael Wiener