En garde, Bad Nauheim! So will die Fechtabteilung des VfL Bad Nauheim zu einem Spitzenverein in Hessen werden

Seit mehr als 100 Jahren wird in Bad Nauheim gefochten, zuletzt aber vor allem oft abseits der breiten Öffentlichkeit. Nun nimmt die Abteilung des VfL Bad Nauheim mit neuen Gesichtern einen neuen Anlauf. Ein Besuch.
Es ist eine der ältesten Formen des Wettbewerbs der Menschheit: Fechten. Bereits in der Antike duellierte man sich. Das Fechten verlor mit dem Aufkommen der Schusswaffe ab dem 17. Jahrhundert zwar militärisch seine Bedeutung, blieb für das zivile Duell aber erhalten. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird sportlich gefochten. 1896 fanden die ersten deutschen Meisterschaften statt, im selben Jahr war Fechten eine der Gründungssportarten der modernen Olympischen Spiele. Bei den derzeit laufenden Spielen in Tokio wird mit Degen, Florett und Säbel - einzeln und in der Mannschaft, bei Damen und Herren - in insgesamt zwölf Disziplinen gefochten.
Auch in Bad Nauheim ist der Fechtsport seit 1908 vertreten, seit 1945 als Abteilung des damals neu gegründeten VfL Bad Nauheim. Aktuell hat die Abteilung 43 Mitglieder im Alter zwischen sieben und 83 Jahren, rund 65 Prozent davon sind Kinder. Und genau hier soll in Zukunft nachgelegt werden: Die 2020 neu aufgestellte Abteilungsleitung hat zuletzt einen vierwöchigen Schnupperkurs mit insgesamt 53 Kindern zwischen sieben und 14 Jahren organisiert. Das Feedback sei durchweg positiv gewesen, sagt Degen-Cheftrainer Philipp Kondring. Der ehemalige Bundeskader-Athlet, dreifache deutsche Meister und Weltcup-Sieger ist zuversichtlich, dass »wir eine gute zweistellige Zahl an neuen Mitgliedern gewinnen können«. Das Credo: »Die Jugendarbeit hat absoluten Vorrang.«

VfL Bad Nauheim kann auf erfahrene Athleten als Trainer bauen
Dafür seien nicht nur der Abteilungsvorstand vergrößert und mit Kondring (Schriftführer) und Abteilungsleiter Dr. Tibor Ziegelhöffer (Kassenwart) zwei Personen in den VfL-Gesamtvorstand gewählt, sondern auch die Zahl der Trainer auf sechs vergrößert worden. Neben Kondring können auch Ziegelhöffer als mehrmaliger Landesmeister der ehemaligen Tschechoslowakei und Hannah Bröcher als deutsche Meisterin auf große nationale Erfolge und internationale Erfahrungen verweisen. Zudem besitzen vier der sechs Trainer eine C-Lizenz. »Wir haben viel Expertise im Verein und sind von unserem Konzept überzeugt - und es wird auch angenommen«, sagt Kondring. Dafür habe man etwa auch die Öffentlichkeitsarbeit neu aufgestellt und die Homepage modernisiert. Das Ziel: »Wir wollen mittelfristig zu den Top-Vereinen in Hessen gehören«, sagt er, »und wir glauben, dass wir das auch schaffen können.«
Eine weitere Besonderheit der Wetterauer: Neben Interessierten jeden Alters und jeden Geschlechts sind auch Menschen mit Behinderung willkommen. Das Training findet grundsätzlich gemeinsam statt. »Alle sollen voneinander und miteinander lernen«, erklärt Kondring. Das zeigt sich auch beim Trainingsbesuch in der Sporthalle am Solebecken (siehe Kasten rechts). Zunächst wird sich warmgelaufen, anschließend muss ein Parcours zur Verbesserung von Schnelligkeit und Impulskraft absolviert werden. Es folgen Dehnübungen sowie Übungen für die Beinarbeit - anschließend wird in Zweierteams gefochten bzw. einzeln mit einem Trainer an der Technik gefeilt - die sogenannte Lektion.

Fechten als vielseitige Sportart für jedes Alter und alle Geschlechter
Seit rund zweieinhalb Jahren ist auch Helge Wirth dabei. Der 56-jährige Künstler aus Butzbach erzählt, er habe seit den Olympischen Spielen 1976 in Montreal, als Alexander Pusch und Jürgen Hehn Gold und Silber im Degen-Einzel geholt hatten, davon geträumt, eines Tages selbst zu fechten. Als sein Sohn in den Verein eintrat, ist er einfach mitgegangen - und nicht mehr davon losgekommen. »Das ist so aufregend wie Zocken auf der Playstation - nur, dass der Gegner direkt vor einem steht«, sagt er. »Das Einzigartige ist, dass grundsätzlich jeder jeden schlagen kann, wenn er schneller ist, eine größere Reichweite hat oder einfach nur cleverer ist - das Alter spielt eine untergeordnete Rolle.« Und gerade in Zeiten von Corona sei Fechten sowieso der ideale Sport: »Wir halten Abstand, tragen Handschuhe und eine Maske«, sagt Wirth mit einem Augenzwinkern. Und in der Tat: Von negativen Auswirkungen der Pandemie blieb die Abteilung verschont.
Fakt ist: Fechten ist vielseitig. Es geht um Konzentration und Reaktion, Schnelligkeit und Präzision, um Beweglichkeit und taktisches Geschick und am Ende sogar um Eleganz. Offenbar auch deutsche Tugenden, gehört doch Fechten zu den erfolgreichsten Sportarten in der deutschen Geschichte, auch »wenn wir nicht mehr da sind, wo wir einmal waren«, sagt Kondring mit Blick auf »Fechtnationen« wie Italien, Frankreich, Ungarn, Russland oder auch die USA und asiatische Länder, die in der jüngeren Vergangenheit stark aufgeholt hätten. Für ihn ist »Fechten auf vielen Ebenen ein Spielbild des gesamten Lebens«. Es gehe um körperlichen und geistigen Einsatz, um den Umgang mit Hochs und Tiefs, um psychische Stabilität und körperliche Fitness. »Das alles bringen wir unseren Fechtern bei. Der Anspruch ist, dass sie so auch immer etwas für ihr Leben lernen«, sagt Kondring.

Fechter des VfL Bad Nauheim hoffen auch auf einen Olympia-Effekt
Das kann auch sein Trainerkollege Ziegelhöffer unterschreiben. Der Herzchirurg an der Bad Nauheimer Kerckhoff-Klinik hatte den langjährigen Abteilungsleiter Peter Dziemba während eines Forschungsaufenthalts am Bad Nauheimer Max-Planck-Institut kennengelernt, nachdem er aufgrund seines Medizinstudiums seine Karriere bereits in jungen Jahren beendet hatte. Als dieser ihn vor ein paar Jahren schließlich um Hilfe bat, hat er nicht lange gezögert und ist mittlerweile hocherfreut über die positive Entwicklung der Mitglieder- und Trainerzahlen. »Jetzt können wir es richtig anpacken - wir entwickeln uns prächtig«, sagt er. Aus seiner Sicht »kennt diese Sportart kein Limit, denn man kann in jedem Alter damit anfangen und, je nachdem, physisch oder psychisch sehr viel ausgleichen. Die Kunst des Fechtens ist es, den Gegner dazu zu bringen, das zu machen, was man selbst will. Das alles ist als Trainer sehr interessant für mich.«
Kontakt zur Fechtabteilung des VfL Bad Nauheim
Wer es selbst mit dem Fechten mal versuchen will, kann sich per E-Mail an die Fechtabteilung des VfL Bad Nauheim (sport@fechtsport-badnauheim.de) oder an Trainer Philipp Kondring (Tel. 01 79-1 34 56 18) wenden. Training ist immer montags (19 bis 21 Uhr) und donnerstags (18 bis 20 Uhr) Der Verein stellt Anfängern die Ausrüstung. Eine Mitgliedschaft kostet 160 Euro im Jahr, für Familien, in denen mehrere Mitglieder fechten, gibt es eine Staffelung der Kosten.
Ziegelhöffer schätzt neben klassischen Tugenden wie Koordination, Ehrgeiz, Ausdauer, Hingabe und einer allgemeinen Sportlichkeit aber vor allem die Fairness im Fechtsport, bei der man Gegnern, Kampfrichtern und Zuschauern stets Höflichkeit und Respekt entgegenbringe müsse. »Das ist gerade in jungen Jahren nicht schlecht - das vermisse ich in unserer Gesellschaft zunehmend«, sagt Ziegelhöffer.
Seine Hoffnung: Vielleicht seien die Olympische Spiele eine weitere Gelegenheit, den Fechtsport wieder etwas mehr in den Fokus zu rücken - auch und gerade in Bad Nauheim.

Im Selbsttest: Zwischen Dopamin und Adrenalin
Die Fechter des VfL Bad Nauheim machen eine Ausnahme für mich: Normalerweise muss man eine kleine Prüfung ablegen, um sich auf der Planche zu duellieren. Die Zeit habe ich bei meinem Trainingsbesuch natürlich nicht. Also: Fechthose und -jacke an, das Kabel für die elektronische Ergebnisanzeige durchgezogen und in den Degen eingesteckt, ein paar letzte Tipps zur Haltung von Waffe und Hand sowie der Stellung der Füße, zuletzt die Maske über den Kopf gezogen und festgezurrt. Dann geht es los. Mein Gegner ist ebenfalls noch nicht lange dabei, macht aber trotzdem gekonnt die ersten Punkte mit der Stoßwaffe. Immerhin: Wirklich weh tut ein Treffer nicht. Meine erste Lektion: Vorbei ist es erst, wenn der Kampfrichter »Halt« ruft – und nicht wenn man denkt, man selbst oder der Gegner hätte einen erwischt. Ich werde mutiger, stürze nach vorne, habe das Glück, dass ich meinen Gegner im wahrsten Sinne des Wortes auf den falschen Fuß erwische und setzte einen Treffer auf dem Oberkörper – Glücksgefühle! Das Dopamin beflügelt mich, das Adrenalin schießt durch meinen Körper. Wenn einer fünf Punkte gemacht hat oder wenn drei Minuten abgelaufen sind, ist das Gefecht vorbei. Was sind schon drei Minuten?! Eine ganze Menge in einer Sportart, in der es auf Sekundenbruchteile ankommt. Ich merke, wie ich nach jedem Punkt mehr außer Atem bin, meine Klamotten unter der Schutzausrüstung sind noch vor Ende des ersten Duells durchgeschwitzt – und doch ist das überwiegende Gefühl weder Anstrengung noch Anspannung, sondern Spaß pur. Was ein intensiver Sport! Wer will sich als nächstes mit mir duellieren?!