Junge (4) stirbt qualvoll: Sektenchefin bestreitet Tötung

In Hanau hat der Mordprozess gegen die Chefin einer Sekte begonnen. Sie soll den qualvollen Tod eines Jungen (4) vor 31 Jahren zu verantworten haben.
Hanau - Ein Kind wisse sehr wohl, was richtig und falsch sei. Jeder müsse sich von klein auf entscheiden, ob er der positiven oder negativen Seite Gottes Raum gibt. Ihr Sohn, „ein Wunschkind“, habe oft „wie blöd“ angefangen zu brüllen, ohne Grund, und „liebevolle Beziehungen“ abgelehnt. Das Sprechen habe er „verweigert“.
Viele Sätze, die Claudia H. am Dienstag im Landgericht Hanau sagt, lassen aufhorchen, einige lösen Kopfschütteln aus. H. ist am ersten Verhandlungstag im Mordprozesses um den Tod des vierjährigen Jan H., der in einer Sekte aufwuchs, als Zeugin gehört worden. Kurz bevor sie an jenem Nachmittag, als er starb, seinen leblosen Körper sah, habe die Angeklagte Sylvia D. ihr von einem „starken Gedanken“ berichtet, ihr gesagt, sie solle nicht traurig sein, wenn Gott Jan hole.
D. bestritt im Gerichtssaal den Mordvorwurf. Ihre Verteidiger verlasen für die 72-jährige Anführerin der Gruppe eine Erklärung, laut der es entgegen der „Behauptung“ der Staatsanwaltschaft „keine Tötungshandlung“ gegeben habe, sagte Rechtsanwalt Peter Hovestadt. Zudem habe die Ursache für den Tod am 17. August 1988 nicht ermittelt werden können. Dass D. die Hilfeschreie des Jungen gehört und ihn in einem Sack habe ersticken lassen, sei nicht belegt und wie andere Vorwürfe „Spekulation“.
Hanau: Prozess gegen Chefin einer Sekte gestartet
D. selbst – dunkelrot geschminkte Lippen, goldglänzender Pullover, Ohrringe, Kurzhaarschnitt – schwieg, abgesehen von einem Ja, auf die Frage, ob die Darstellung ihrer Anwälte zutreffe. Manchmal blickte sie starr geradeaus, doch die meiste Zeit über hörte sie konzentriert und ruhig, fast regungslos, zu, schien jedes Wort aufzusaugen. In einer Pause lächelte sie Claudia H. freundschaftlich an.
Die Staatsanwaltschaft ist nach zweieinhalbjährigen Ermittlungen überzeugt, dass die damals 41-Jährige Jan H., dessen Eltern ihn in ihre Obhut gegeben hatten, grausam und aus niedrigen Beweggründen ermordet hat, so Oberstaatsanwalt Dominik Mies: Nachdem die Eltern H.s und Walter D., der verstorbene Mann der Verdächtigen, an dem Tag das Haus verlassen hätten, habe Sylvia D. die Gelegenheit genutzt, um das Kind zu töten. Der Junge sei in einen Leinensack eingeschnürt und ins Bad gelegt worden, habe auch wegen der Hitze Atemnot bekommen und „erheblich“ geschrien.* Da habe D. auch noch die Fenster geschlossen und ihn sinngemäß mit folgenden Worten angeschrien: „Jetzt kannst du das Schaugebrülle lassen!“ Alle seien weg, niemand könne ihm helfen. Später habe die Frau an der Tür gelauscht und festgestellt, dass Jan verstummt war und sie ihr Ziel erreicht hatte. Die Krankenschwester habe ihn umbringen wollen, weil sie ihn als vom Bösen besessen sowie als Wiedergeburt Hitlers betrachtet habe.
Die FR hatte den Sektenfall 2014 öffentlich gemacht. Sylvia D. steht an der Spitze einer Gruppierung, die sie mit Walter D. Anfang der 1980er Jahre gründete. Die Anführerin gibt vor, Anweisungen von Gott zu erhalten, die die anderen etwa 20 Mitglieder – zu denen Jan H.s Eltern gehören – umsetzen müssten.
Nach Tod von 4-Jährigem: Chefin einer Sekte steht vor Gericht
Zahlreiche Unterlagen und übereinstimmende Aussagen von Zeugen stützen den Verdacht, dass es sich um ein totalitäres System handelte. Aussteiger berichten von physischer und psychischer Gewalt auch gegen Kinder; vor allem Jan H. wurde offenbar schwer misshandelt.
Seine Mutter wies die Vorwürfe gegen D., die bereits früh göttliche Erfahrungen gemacht und vielen Menschen im Leben geholfen habe, nun vehement zurück. Die 72-Jährige sei liebevoll und geduldig mit Jan H. umgegangen. Und niemand habe geahnt, dass er bald sterben würde.
Die Staatsanwaltschaft hatte 2017 Anklage erhoben, welche das Gericht prüfte und zuließ. Sie hat ebenfalls einen hinreichenden Tatverdacht erkannt.
Die Verteidigung beantragte am Dienstag zunächst, das Verfahren einzustellen. Sie sieht die Rechte ihrer Mandantin verletzt, weshalb ein faires Verfahren nicht möglich sei. Es geht den Anwälten besonders darum, dass D. im Herbst 2015 schon als verdächtig gegolten habe, aber als Zeugin vernommen worden sei. Das verstoße gegen das Recht, dass sich niemand selbst belasten müsse. Hilfsweise beantragte die Verteidigung, die – offensichtlich wichtige – Aussage nicht zu verlesen. Mies widersprach beiden Vorwürfen entschieden. Es liege kein Verstoß vor, die Aussage sei verwertbar.
Hanau: Fall 2014 öffentlich gemacht
Der Vorsitzende Richter Peter Graßmück lehnte den Antrag auf Einstellung ab und erlaubte, die fraglichen Zitate zu verlesen. Die Anklageschrift unterrichte lediglich über die Vorwürfe, sei kein Beweismittel; über die Verwertbarkeit der Vernehmung werde später entschieden. Auch der „Anregung“ der Verteidiger, den FR-Redakteur vom Prozess auszuschließen, weil er als Zeuge infrage komme und bei der Genese einer Aussage eine Rolle gespielt habe, folgte das Gericht nicht.
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