»Bei Beleidigungen nie den Kopf einziehen«
Frankfurt. Die Kinder hüpfen am Donnerstag aufgeregt über den Pausenhof der jüdischen Schule. Beim Anblick der Limousine ruft ein Junge: »Er kommt!«
Es sagte . . .
Ministerpräsident Bouffier beim Besuch der Lichtigfeld-Schule angesichts dessen, dass es am heutigen Freitag in Hessen Halbjahreszeugnisse gibt:
»Ich hatte gute Noten in einigen Fächern, in anderen habe ich gehofft, dass es gerade so funktioniert.«
Frankfurt. Die Kinder hüpfen am Donnerstag aufgeregt über den Pausenhof der jüdischen Schule. Beim Anblick der Limousine ruft ein Junge: »Er kommt!« Sofort drängen sich die Schüler um Ministerpräsident Volker Bouffier, strecken ihm zerknitterte Karoblätter und rosa Kulis unter die Nase. Alle wollen ein Autogramm. Die Kinder jubeln, als wäre der CDU-Politiker ein Popstar. Der Ministerpräsident ist beeindruckt. Am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ist für ihn dieser herzliche Empfang an der jüdischen Lichtigfeld-Schule im Philanthropin die beste Botschaft überhaupt.
Die Begrüßung gehe ihm ans Herz, sagt Bouffier. »So etwas kann man nicht bestellen oder inszenieren.« Der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz sei ein schwieriger Tag. Wenn dieser Tag mit so viel Fröhlichkeit und Herzlichkeit beginne, sei das ein ermutigendes Zeichen. Beim Erinnern sei es wichtig, dass die Menschen etwas lernten und für die Zukunft mitnähmen. Dieser Empfang mache deutlich, dass diese Jugendlichen hoffnungsfroh seien und mit Zuversicht in die Zukunft blickten.
»Du Jude« als Schimpfwort
Der Nationalsozialismus ist bei fast allen Schülern mit ihrer persönlichen Geschichte verknüpft. In kleiner Runde mit dem Ministerpräsidenten erzählt Benjamin von seinem Urgroßvater, der für Deutschland im Ersten Weltkrieg kämpfte, dabei beide Beine verlor und das Eiserne Kreuz verliehen bekam. Im Zweiten Weltkrieg wurde er mit der Urgroßmutter ins KZ Theresienstadt deportiert. Nur durch Glück hätten sie überlebt, »und ich bin heute hier«, sagt der Junge im roten Kapuzenpulli. Die Menschen redeten heute nicht gerne über den Nationalsozialismus. Das könne er verstehen, sagt Benjamin aus der neunten Klassse, es sei schließlich keine schöne Sache gewesen.
»Dennoch war sie da und darf nicht in Vergessenheit geraten«, fügt er hinzu. Zwei andere Jungen berichten von antisemitischen Beleidigungen auf dem Fußballplatz. Dort gelte »du Jude« als Schimpfwort. »Das ist für uns jüdischen Kinder sehr schwer«, sagt Naftali. Sein Mitschüler Garon erzählt, wie er vom Rückweg von der Synagoge zusammen mit seinem Vater beschimpft worden sei. Seitdem gehe er nicht mehr mit Kippa auf dem Kopf auf die Straße. Ihre Uroma habe nie viel über die Shoah reden wollen, sagt Gracia. Aber an der Lichtigfeld-Schule werde das Thema den Schülern schon sehr früh nahegebracht. Das Mädchen mit den Locken betont, dass andere Kinder heute nichts für die Greueltaten der Nationalsozialisten könnten. »Sie selbst waren es nicht.«
Der Ministerpräsident betont, dass er sehr genau zuhöre. Oft stecke schlichte Blödheit hinter rassistischen Äußerungen. »Aber Blödheit kann auch wehtun«, fügt Bouffier hinzu. Deshalb sei es wichtig, die Menschen so gut wie möglich aufzuklären. Er bittet die Kinder, bei Beleidigungen niemals den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass es vorbeigeht: »Seid mutig!«
Es war seine Idee, den Gedenktag mit einem Besuch der Lichtigfeld-Schule im Philanthropin zu beginnen. Anschließend besucht der Ministerpräsident das Mahnmal an der Gedenkstätte Neuer Börneplatz in Frankfurt und die Synagoge der Jüdischen Gemeinde in Darmstadt. Am Abend nimmt Bouffier zudem an der hessenweiten Gedenkveranstaltung für die Opfer der Nationalsozialismus teil. Schulleiterin Alexa Brum strahlt nach dem hohen Besuch über beide Wangen. »Es hat uns das Herz geöffnet«, sagt die Direktorin. Nicht nur zu Gedenken, sondern auch in die Zukunft zu blicken, dieser Gedanke werde an der Schule mit den Kindern gelebt. Es tue gut, dass der Ansatz auf diese Weise gewürdigt werde.
Der Gesellschaft geöffnet
Die jüdische Schule wurde vor über 200 Jahren gegründet. Im Nationalsozialismus wurden Schüler und Lehrer von den Nazis deportiert, die Schule geschlossen. Bei der Wiedereröffnung 1966 sei zunächst vor allem das Anliegen der jüdischen Eltern gewesen, einen geschützten Raum für ihre Kinder zu schaffen, berichtet die Direktorin. Mit dem Generationenwechsel um 1990 habe sich die Schule stärker wieder der Gesellschaft geöffnet. Von den 470 Schülern seien etwa 30 Prozent russische Migranten, weitere 30 Prozent stellten nichtjüdische Kinder. »Es ist uns ganz wichtig, dass unsere Kinder hier zusammen groß werden«, sagt Brum.
Kathrin Hedtke, dapd-hes