»Antwort der Justiz muss Erziehung bleiben«
Frankfurt. »Sehr faul und sehr begabt« lautete das wenig schmeichelhafte Zeugnis ihres Rektors, als die 13-Jährige am 30. Januar 1908 vor den gerade gegründeten Jugendgerichtshof Frankfurt trat. Ein Heft, einen Riemen und Garn im Gesamtwert von einer Mark hatte das Mädchen in der Wohnung einer Freundin gestohlen, obendrein in der Schulzeit.
Frankfurt. »Sehr faul und sehr begabt« lautete das wenig schmeichelhafte Zeugnis ihres Rektors, als die 13-Jährige am 30. Januar 1908 vor den gerade gegründeten Jugendgerichtshof Frankfurt trat. Ein Heft, einen Riemen und Garn im Gesamtwert von einer Mark hatte das Mädchen in der Wohnung einer Freundin gestohlen, obendrein in der Schulzeit. Als selbst ihr Vater dem Richter Karl Allmenröder noch berichtete, sein Kind sei »seit zwei Jahren verlogen«, entschied dieser auf drei Tage Gefängnis für die kleine Diebin. Es war eines der ersten Urteile am ersten Jugendgericht Deutschlands, das am morgigen Mittwoch sein 100-jähriges Bestehen feiert. »Selbst wenn sie 14 gewesen wäre, wäre das Verfahren nach heutigen Maßstäben eingestellt worden«, sagt der erfahrene Frankfurter Jugendrichter Jürgen Fröhlich. Die Maßstäbe haben sich offenbar verändert, die sozialen Probleme der jungen Straftäter hingegen nach Einschätzung der Experten nur wenig. Das Jugendstrafrecht stand wochenlang im Mittelpunkt des hessischen Wahlkampfs, doch die Fachwelt ist sich einig, dass mit höheren Strafdrohungen oder der vom hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch ins Spiel gebrachten Absenkung der Strafmündigkeit nichts gewonnen wäre. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich im Kaiserreich langsam die Erkenntnis durchgesetzt, dass jugendliche Straftäter anders behandelt werden sollten als Erwachsene. Nach Vorbildern in Kanada und den USA wurde 1908 am Frankfurter Amtsgericht das erste Jugendgericht Deutschlands eingerichtet, lange vor dem ersten Jugendgefängnis (1912) und der in ihren Grundzügen auch heute noch gültigen gesetzlichen Grundlage, dem Jugendgerichtsgesetz (1923). Noch im gleichen Jahr folgten Köln und Berlin, vier Jahre später gab es im Reich bereits 212 eigenständige Jugendgerichte. Jugendgerichtshilfe entwickelte sich aus einem privaten Verein Mit den speziellen Jugendrichtern kamen auch Menschen, die sich um die jungen Täter kümmern sollten – während des Prozesses und möglichst auch danach. Wie vieles in der früheren freien Reichsstadt entwickelte sich die heutige Jugendgerichtshilfe aus einem privaten Verein, gesponsert von Frankfurter Großbürgern wie Wilhelm Merton, dem Gründer der Metallgesellschaft. Um die Persönlichkeit und die Lebensumstände ihrer Schützlinge sollten sich die frühen Sozialarbeiter kümmern und die waren im engen Frankfurt vor dem Ersten Weltkrieg nicht immer die Besten. Die Stadt war binnen weniger Jahrzehnte um das Fünffache angewachsen, Armut in den städtischen Unterschichten weit verbreitet. »Das waren richtig arme Kinder«, sagt der Pädagoge Frank Heiner Weyel, hessischer Vorsitzender der Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe (DVJJ). Manche Sprösslinge meist kinderreicher Familien waren ständig in Raufereien verwickelt und begingen kleine Diebstähle, das Bürgertum war aufs Äußerste besorgt. Gestörte Familienverhältnisse, Alkohol, Gewalt, mangelnde Förderung durch bildungsferne und erschöpfte Eltern – die sozialen Ursachen für Jugendkriminalität waren nach Ansicht des Buchautors und FH-Dozenten Harry Hubert damals die selben wie heute. Sprachprobleme und Abschottungstendenzen bei Migranten sowie die Angst ausländischer Familien, amtliche Hilfen anzunehmen, verschärfen die Situation heute noch. Die Antwort der Justiz müsse die Erziehung bleiben – über die geeigneten Formen und Instrumente wird dabei kräftig gestritten. Richter Fröhlich beklagt die umständliche, aber aus rechtlichen Gründen unverzichtbare Justizbürokratie, die übervollen Arrestanstalten, die langen Fristen. Der von der CDU geforderte »Warnschussarrest« für Bewährungshäftlinge könne nach jetzigen Kapazitäten frühestens drei Monate nach Rechtskraft des Urteils vollstreckt werden – eine schnelle und entschlossene Reaktion der Gesellschaft wäre das kaum. Die Beteiligten greifen zu Krücken: Auch in Frankfurter Justizkreisen ist das Mittel der schnell verhängten Untersuchungshaft für Intensivtäter nicht unbekannt, obwohl es rechtlich bedenklich ist und in Berlin einen allzu offenherzigen Oberstaatsanwalt den Posten gekostet hat. »Rund um die Uhr Betreuung erforderlich« Weyel verlangt mehr ambulante Angebote wie etwa den Täter-Opfer-Ausgleich oder Anti-Gewaltkurse, die dem Streichdiktat Kochs zum Opfer gefallen seien.
Die Prävention müsse unbedingt ausgebaut werden. Der Gießener Kriminologe Arthur Kreuzer plädiert für die Wiedereinführung geschlossener Erziehungsheime für einen kleinen Teil der jungen Missetäter, die rund um die Uhr intensiv betreut werden müssten. In eine ähnliche Richtung geht das zu Jahresbeginn in Kraft getretene Jugendstrafvollzugsgesetz Hessens. Den Jugendgerichten wird die Arbeit nicht ausgehen. Christian Ebner, dpa