Sollte die deutsche Politik die Katar-WM boykottieren? Exklusive Bundestags-Umfrage zeigt gespaltenes Bild
100 Tage vor der WM ist sich Deutschlands Politik uneins, ob sie nach Katar reisen sollte. Die exklusive Umfrage unter fast 100 Bundestagsabgeordneten zeigt völlig unterschiedliche Sichtweisen.
Berlin/Doha - „Man kann große Sportfeste nur wirklich feiern, wenn andere Menschen dafür nicht mit ihrem Leben bezahlen müssen.“ Dieser Satz stammt von Außenministerin Annalena Baerbock und ist etwa ein halbes Jahr alt. Damit begründete die Grünen-Politikerin ihren persönlichen Boykott der Olympischen Winterspiele in China. Andere Vertreter der Regierung wie Kanzler Olaf Scholz taten es Baerbock gleich – und blieben Peking fern.

Nun steht mit der Fußball-WM in Katar das nächste sportliche Mega-Event in einem umstrittenen Austragungsort auf der Agenda. Ab November rollt der Ball in den von ausgebeuteten Gastarbeitern errichteten Stadien. Sollte die deutsche Politik die WM meiden? Ist ein diplomatischer Boykott angebracht oder kontraproduktiv? Merkur.de von IPPEN.MEDIA hat bei allen 736 Bundestagsabgeordneten nachgefragt und bekam Antworten von 97 Politikern.
Boykott Katar? Deutsche Politik laut Ippen-Umfrage uneins
Viele Politiker sagten aufgrund der parlamentarischen Sommerpause ab oder antworteten erst gar nicht. Die Umfrage zeigt: 49 Befragte fordern, dass Vertreter der Bundesregierung nicht nach Katar reisen sollen. 48 lehnen einen diplomatischen Boykott ab.
Am größten ist die Boykottsympathie in Scholz‘ SPD, wo es 21 „Ja“- und neun „Nein“-Stimmen gab. Innerhalb der Ampelkoalition wird diese Frage aber wohl differenziert gesehen. In der FDP gibt es drei Boykottbefürworter, bei zwölf Gegenstimmen. Gespalten scheint die Union, wo sich zehn Abgeordnete dafür und 13 dagegen entscheiden.
Sollte die Regierung die WM boykottieren? | Ja | Nein |
---|---|---|
SPD | 21 | 9 |
Grüne | 4 | 3 |
FDP | 3 | 12 |
CDU/CSU | 10 | 13 |
AfD | 7 | 4 |
Linke | 4 | 6 |
Gesamt | 49 | 48 |
Politischer WM-Boykott? „Ich werde die WM auch nicht am Bildschirm verfolgen“
Begründungen für einen diplomatischen Boykott gibt es viele, Argumente dagegen ebenso. SPD-Politiker Martin Diedenhofen sieht eine politische Reise zur Katar-WM sehr kritisch und verweist auf „zahlreiche Berichte über die schlechte Menschenrechtssituation“ in dem Land. „All dies ist mit den Werten, für die diese Koalition steht, nicht vereinbar.“ Der AfD-Politiker Jörg Schneider bezeichnet die WM-Vergabe als „höchst dubios und kritikwürdig“. Er befürwortet „jede Form von Protest und Boykott“ und meint: „Ich für meinen Teil werde diese WM auch nicht am Bildschirm verfolgen.“
Dass die TV-Geräte während der Spiele ausbleiben, fordern auch mehrere Fanorganisationen wie die Initiative „Boycott Qatar“. Die beiden Autoren Bernd Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling unterstützen die Kampagne und erklären gemeinsam: „Das WM-Turnier 2022 in Katar ist ein dem Fußball unwürdiges Vorhaben. Es werden so viele Gebote der sportlichen und politischen Fairness verletzt, dass es uns unverantwortlich erscheint, an diesem Ereignis teilzuhaben, ob als aktiver Sportler, Funktionär oder nur als TV-Zuschauer.“
Hinweis zur Umfrage
Die Kontaktaufnahme fand Ende Juli per Mail an die Abgeordnetenbüros der Bundestagspolitikerinnen und -politiker statt. Auf die Frage „Sollten Vertreter der Bundesregierung die Weltmeisterschaft in Katar diplomatisch boykottieren?“ konnte mit „Ja“ und „Nein“ geantwortet werden. Die Beantwortung der Frage erfolgte grundsätzlich anonymisiert, einzelne Abgeordnete begründeten ihre Antwort allerdings und werden daher nach Rücksprache zitiert.
Diplomatischer WM-Boykott? Katar-Deal beim Gas als Argument dagegen
Der Münchner CSU-Abgeordnete Wolfgang Stefinger findet es „immer noch einen Skandal, dass die WM überhaupt nach Katar vergeben wurde“. Auch er spricht sich für einen diplomatischen Boykott aus. „Allerdings ist die Bundesregierung natürlich in einer schwierigen Lage: Ein Boykott wirkt nicht sonderlich glaubwürdig, wenn man kürzlich für einen Gas-Deal den Hofknicks vor dem Emir hingelegt hat.“ Stefinger nennt damit bereits ein Argument gegen ein politisches Fernbleiben – die aktuelle Energieversorgung. Wirtschaftsminister Robert Habeck reiste im Frühjahr nach Doha und arbeitet (bislang vergeblich) an einer Partnerschaft beim Flüssiggas.
CSU-Politiker Peter Ramsauer bezeichnet einen Boykott als „heuchlerisches Manöver“, gerade mit Blick auf die Energieversorgung: „Damit würde man die Bemühungen von Robert Habeck um katarische Gaslieferungen torpedieren.“ FDP-Vorstandsmitglied Alexander Graff Lambsdorff argumentiert ähnlich: „Nach dem Besuch von Robert Habeck in Doha wäre ein offizieller diplomatischer Boykott Katars durch die Bundesregierung geradezu widersinnig.“
WM-Boykott? Amnesty spricht sich dagegen aus
Boykottkritiker argumentieren auch damit, dass ein Fernbleiben die Situation nur verschlimmern würde. Die Chance, auf Missstände aufmerksam zu machen, wäre dahin. „Ich bin für Dialog statt Boykott“, sagt der sportpolitische Sprecher der Linken, André Hahn. Das sieht auch die Non-Profit-Organisation Amnesty International so. Sie wirft Katar in einer aktuellen Stellungnahme zwar Rückschritte bei der Reformbereitschaft vor – spricht sich aber gegen einen Boykott aus. Reformen hätte es ohne den geschärften Blick auf das Emirat nicht gegeben.
FDP-Politiker Peter Heidt begründet sein Boykott-Veto ähnlich. Laut dem menschenrechtspolitischen Sprecher seiner Fraktion hat Katar „in den vergangenen Jahren Reformen auf den Weg gebracht“. Davon habe er sich selbst bei einem Katar-Besuch überzeugt. Einige Reformen würden zu schleppend vorangetrieben werden. Deutschland müsse daher aktiv zur Verbesserung beitragen und Katar unterstützen. „Ein diplomatischer Boykott wäre hier das falsche Signal.“ Das sieht auch Parteifreundin Renata Alt so. Sie fordert, dass sich die Bundesregierung „kontinuierlich für eine Verbesserung der Menschenrechtslage in Katar einsetzt“, etwa durch Gespräche am Rande der WM.
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Kompromiss zur Boykott-Idee: Faeser nach Katar, Scholz & Co. „sollten nicht hinfahren“
CSU-Politiker Tobias Winkler plädiert für eine Zwischenlösung. Er findet einen kompletten politischen Boykott falsch. Innen- und Sportministerin Nancy Faeser sollte nach Katar reisen. Entsprechende Pläne kündigte die SPD-Politikerin bereits an. „Der Bundeskanzler, der Bundespräsident oder eine ganze Ministerriege sollten jedenfalls nicht hinfahren“, meint Winkler. Kanzler Scholz schweigt bislang zu seinen Reiseplänen. Schon bald werden sich er und sein Kabinett aber mit dem Umgang mit Katar beschäftigen müssen. Einfach ist die Antwort darauf nicht. (as)
Fünf Tage nach Veröffentlichung des Textes meldete sich am 17. August die katarische Botschaft in Berlin zu Wort. In einer Stellungnahme kritisiert Botschafter Abdullah Al-Thani die Umfrage über das Presseportal. Sie sei nicht repräsentativ und stehe „im Widerspruch zu den aktuellen guten diplomatischen Beziehungen und zu unserem Verständnis von Sport und Fußball“.Abdullah Al-Thani wird wie folgt zitiert: „Die Fußball-WM in Katar spielt eine wichtige Rolle bei der Förderung von Frieden und Entwicklung sowie der Achtung der Menschen-rechte. Insbesondere der Fußball trägt zur Völkerverständigung bei, da er weltweit beliebt ist. Daher ist ein politischer Boykott der Fußball-WM in Katar nicht nachvollziehbar. Mit der Umfrage von Merkur.de soll eine negative Stimmung gegen die Fußball-WM in Katar geschaffen werden. Das können wir nicht akzeptieren.“