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„Situation ist unbefriedigend“: Wie das Gesundheitsministerium auf Arznei-Engpass reagiert

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Von: Christiane Kühl, Max Müller, Fabian Hartmann

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Aktuell liegen rund 300 Meldungen zu Lieferengpässen bei Medikamenten vor.
Leere Schubladen in der Apotheke: Aktuell liegen rund 300 Meldungen zu Lieferengpässen bei Medikamenten vor. © Christoph Soeder/dpa

Die Versorgung mit Medikamenten stockt. Doch eine Lösung für das Problem ist schwierig. Jetzt ist das Gesundheitsministerium gefordert – der Druck steigt.

Berlin – Frust bei Ärzten, Apothekern und Patienten: In Deutschland kommt es aktuell immer wieder zu Lieferengpässen bei Medikamenten. Ein Problem, das zunehmend auch die Bundespolitik beschäftigt. Auf Anfrage der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA teilte eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums mit, dass es aktuell Lieferengpässe bei 300 Arzneien gebe. Ein Versorgungsengpass sei dies aber nicht. Denn: Es stehen andere Mittel mit gleichem Wirkstoff – sogenannte Generika – zur Verfügung. „Trotzdem ist die Situation unbefriedigend“, so die Sprecherin.

Das Problem bei Generika: Gerade für ältere Patienten oder Menschen, die jahrelang ein bestimmtes Medikament eingenommen haben, kann ein Wechsel mit Nebenwirkungen verbunden sein. Zusätzliche Beratung ist also nötig.

Experten warnen unterdessen davor, dass viele Medikamente oder ihre Wirkstoffe zu einem überragenden Anteil in Indien und China produziert werden. So hat sich die Bundesrepublik in eine gefährliche Abhängigkeit manövriert. Der Apothekerverband verweist schon seit Jahren auf diese Problematik. Schuld habe die Politik. Das Problem spürt das Land gerade jetzt, in einer Zeit, in der gestiegene Energie- und Transportkosten das Problem verschärfen. Hinzu kommt die Sackgasse, in der sich China durch die gerade erst gelockerte Zero-Covid-Strategie wirtschaftlich befindet.

Medikamente fehlen: Die Ampel will mehr Produktion in Deutschland – das Gesundheitsministerium führt Gespräche

Die Sprecherin des Gesundheitsministeriums teilte unserer Redaktion mit, dass man an einer Lösung arbeite. „Ziel ist, die Lieferketten so zu diversifizieren, dass die Abhängigkeit von einzelnen Herstellern abnimmt“. Ähnlich klang es bereits im Koalitionsvertrag der Ampel an. Passiert ist seitdem wenig. Dabei möchte die Bundesregierung, dass die Produktion von Medikamenten wieder stärker in die EU und bestenfalls nach Deutschland verlagert wird. Hierzu führe das Gesundheitsministerium gerade Gespräche mit Herstellern und Verbänden sowie auf EU-Ebene, so die Sprecherin.

Daneben besteht aber noch ein weiteres Problem – die sogenannten Rabattverträge. Damit meinen Experten eine besondere Vertragskonstruktion im Gesundheitswesen. Krankenkassen handeln mit Herstellern von Medikamenten Verträge aus. Der Clou: Wenn sie nur mit einem Hersteller einen Deal abschließen, liefert der Pharmaproduzent besonders günstig. Die Krankenkasse verpflichtet sich im Gegenzug, ausschließlich bei diesem Hersteller einzukaufen.

Enormer Kostendruck bei Medikamenten: „Endlich weg vom Hauptsache-Billig-Prinzip“, fordert Pro Generika

Die Folge ist ein enormer Kostendruck, was die Produktion in Deutschland praktisch unmöglich macht. Der Branchenverband Pro Generika fordert: „Endlich weg vom Hauptsache-Billig-Prinzip bei Generika und hin zu einem System, das Herstellern den Aufbau von resilienten Lieferketten und einer stabilen Produktion gestattet.“

Medikamenten-Mangel in Deutschland: Lesen Sie hier die Ursachen und Lösungen

Medikamente in Deutschland werden knapp – und eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht. Derzeit liegen 301 Meldungen zu Lieferengpässen vor. Besonders dramatisch ist die Situation bei Fiebersäften für Kinder, Hustenmitteln, Blutdrucksenkern und Brustkrebsmedikamenten.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach kündigte bereits eine Reform an, doch das reicht nicht, sagen gesundheitspolitische Sprecher der Opposition aus dem Bundestag.

Knapp drei Viertel aller in Europa produzierten Medikamente enthalten Wirkstoffe aus China. Lesen Sie hier, warum viele Präparate spät oder gar nicht nach Deutschland kommen.

Auch die Opposition im Deutschen Bundestag macht Druck: „Gesundheitsminister Karl Lauterbach muss jetzt die schwierige Debatte führen, wie viel Geld uns eine sichere Arzneimittelversorgung wert ist. Europäische Produktion ist deutlich teurer als der Import aus Asien“, sagte CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge der Frankfurter Rundschau. Das gesamte System der Rabattverträge gehöre auf den Prüfstand. „Der billigste Anbieter ist eben nicht immer der beste“, so Sorge.

Medikamenten-Engpass: Die Linke will System der Rabattverträge komplett abschaffen

Die Linke geht noch einen Schritt weiter und will die Rabattverträge gleich ganz abschaffen. Außerdem müsste die Produktion von Arzneimitteln ins Inland geholt werden – inklusive mehr staatlicher Kontrolle. „Es braucht grundsätzliche Neuregelungen, die den Einfluss der Pharmaindustrie auf unsere Gesundheitsversorgung zurückdrängen“, sagte Linken-Gesundheitspolitikerin Kathrin Vogler der Frankfurter Rundschau. Es gebe keine Kontrolle, welche Arzneimittel wie, wo und in welchen Mengen hergestellt werden – dabei finanzierten Steuer- und Beitragszahler einen Großteil der pharmazeutischen Forschung, argumentiert Vogler.

Unzweifelhaft ist, dass im deutschen Gesundheitssystem Milliardenbeträge fließen. Den Weggang der europäischen Arzneimittelproduktion konnte das nicht aufhalten. Wurden im Jahr 2000 noch etwa zwei Drittel der generischen Wirkstoffe in Europa produziert und ein Drittel in Asien, hat sich das Verhältnis nach einer Studie der Unternehmens­beratung MundiCare im Auftrag des Branchenverbands Pro Generika heute umgekehrt: Zwei Drittel der Wirkstoffe stammen jetzt aus Ländern wie China oder Indien.

Chinas wachsender Einfluss: So wollen Deutschland und die EU den Anschluss wahren.

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Was einerseits die Kosten senkt, führt an anderer Stelle zu neuen Problemen. Beispiel China: Das dortige Zentrum der Pharma-Produktion ist das Jangste-Delta, das vor allem 2022 infolge des strikten Lockdowns im nahe gelegenen Shanghai von vielen lokalen Transportbeschränkungen betroffen war. Viele Firmen konnten wochenlang nicht produzieren. Und das, was noch für den Export vom Band lief, gelangte vielfach nicht zum Shanghaier Hafen oder blieb dort hängen. Vor dem Containerhafen bildete sich während des Lockdowns der Metropole ein riesiger Schiffsstau.

Der Kostendruck im Gesundheitssystem hat dazu geführt, dass sich Indien und China zu den weltgrößten Produzenten fertiger Generika aufschwingen konnten. Und China produziert nach Angaben des Beratungsunternehmens Daxue Consulting in Peking noch dazu eben rund 40 Prozent der weltweiten Medikamenten-Wirkstoffe. Etwa 70 Prozent aller in Europa und Japan produzierten Medikamente enthalten demnach die Wirkstoffe aus der Volksrepublik. 

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Dass die Handelsströme so einseitig verlaufen, beschäftigt Regierungen weltweit. Es wird lange dauern, die Fehler der Vergangenheit zu beheben und robuste Lieferketten aufzubauen – so, wie es das Gesundheitsministerium in Deutschland nun plant.

Karl Lauterbach sagte kürzlich auf einer Pressekonferenz einen Satz, der eigentlich selbstverständlich sein sollte. „Es kann nicht sein, dass wir versuchen, bei den Wirkstoffen zum Teil ein paar Cent zu sparen, dann aber dafür die Versorgung der Bevölkerung riskieren“. Doch selbstverständlich war im Gesundheitssystem bislang nur eines: Im Zweifel haben wirtschaftliche Interessen Vorrang.

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