Ukrainische Diplomaten, Wissenschaftler und die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) arbeiteten daran, den Besuch einer Expertenkommission in dem Kernkraftwerk zu ermöglichen. „Nur absolute Transparenz und eine kontrollierte Lage in und um das AKW garantieren eine Rückkehr zu normaler nuklearer Sicherheit für den ukrainischen Staat, die internationale Gemeinschaft und die IAEA“, sagte Selenskyj.
Die Lage in dem von russischen Truppen besetzten größten Atomkraftwerk Europas beunruhigt die internationale Staatengemeinschaft seit Wochen. Immer wieder schlagen auf dem Kraftwerksgelände Geschosse ein, wobei sich Russland und die Ukraine gegenseitig für den Beschuss verantwortlich machen. Der Besuch einer IAEA-Mission in Saporischschja wird Thema bei dem Treffen Selenskyjs mit Guterres an diesem Donnerstag in Lwiw (Lemberg) sein. Dritter Teilnehmer des Gipfels ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Die russische Besatzungsverwaltung berichtete am Mittwoch (17. August) zweimal über angeblich ukrainischen Beschuss auf das AKW. Zwei Mitarbeiter des Werks wurden nach Polizeiangaben festgenommen, weil sie den ukrainischen Truppen beim Zielen geholfen hätten, meldete die Agentur Ria Nowosti. Unabhängige Bestätigungen dafür gab es nicht.
Erstmeldung vom Dienstag, 16. August, 10.30 Uhr: Enerdohar – Im Süden der Ukraine, an einem Stausee des Flusses Dnipro, liegt das größte Atomkraftwerk in Europa: das AKW Saporischschja. Seit Wochen herrscht Aufregung um die Anlage. Es gibt schwere Kämpfe in der Region. Die Armeen beider Kriegsparteien im Ukraine-Konflikt beschuldigen sich gegenseitig, für den Beschuss des AKW verantwortlich zu sein.
Neben den Schuldzuweisungen äußern sowohl die Ukraine als auch Russland ihre Bedenken bezüglich der Sicherheit in der Region. Eine Atomkatastrophe steht im Raum, sollte die Stromversorgung im Kraftwerk unterbrochen werden. Sie ist für die Kühlung der radioaktiven Brennelemente in insgesamt sechs Reaktoren – wovon aktuell zwei in Betrieb sind – verantwortlich. Fällt die dauerhafte Kühlung der Brennstäbe aus, frisst sich das Material durch den Reaktor, nach draußen: der größte anzunehmende Unfall, ein sogenannter GAU.
Fachleute aus der Kernenergieforschung warnten schon mehrfach, dass ein nuklearer Zwischenfall nicht nur die Ukraine, sondern auch die Nachbarstaaten Russland, Moldawien, Belarus, Rumänien und Bulgarien betreffen würde. Durch die Kämpfe könnten kritische Infrastrukturen, einschließlich der Reaktoren, beschädigt werden, sagte Andrei Ozharovsky, Spezialist für die Sicherheit radioaktiver Abfälle bei der Russischen Sozial-Ökologischen Union, der Moscow Times.
Sowohl die Forschung als auch die Politik betonten bereits, dass bei einem GAU wohl der Wind der entscheidende Faktor sein wird. Er dürfte darüber entschieden, wohin das radioaktive Material geweht werden. Die Folgen eines radioaktiven Materialaustritts hängen davon ab, „welche Witterung zum Ereigniszeitpunkt herrscht und woher der Wind weht“, erklärte kürzlich Meteorologe Wolfgang Raskob der Wochenzeitung Zeit. „Der bläst in Saporischschja überwiegend Richtung Süden oder Osten.“ Sowohl Russland als auch die Türkei könnten davon getroffen werden. Deutschland sei hingegen außer Reichweite, betonte Raskob, der am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) die Arbeitsgruppe „Unfallfolgen des Instituts für Kern- und Energietechnik“ leitet.
„Im Falle einer Explosion – und angesichts der Tatsache, dass sich das Kraftwerk in der Nähe des Flusses befindet – könnte die Strahlung Hunderte von Kilometern um das Kraftwerk herum freigesetzt werden“, erklärte Wissenschaftler Ozharovsky der Moscow Times.
Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, bestätigte das. „Jeder radioaktive Zwischenfall im Atomkraftwerk Saporischschja könnte auch zu einem Schlag gegen die Staaten der Europäischen Union und gegen die Türkei und gegen Georgien und gegen die Staaten weiter entfernter Regionen werden“, sagte der Staatschef in einer am Montagabend verbreiteten Videobotschaft. „Alles hängt nur von der Richtung und der Stärke des Windes ab“, sagte er.
Auch aus Russland waren wiederholt Warnungen im Ukraine-Krieg zu vernehmen. Wassili Nebensja, russischer UN-Botschafter, hatte vor einer „nuklearen Katastrophe“ gewarnt, vergleichbar mit dem GAU in Tschernobyl im Norden der Ukraine im Jahr 1986. Dies war der weltweit bislang schlimmste radioaktive Unfall.
Mittlerweile forderten bereits mehr als 40 Staaten Russland dazu auf, die Soldaten aus dem AKW Saporischschja abzuziehen. Sie überwachen die ukrainischen Arbeiterinnen und Arbeiter seit Wochen. Zudem äußerten sie die Forderung, die UN-Atomaufsichtsbehörde ein Überprüfungsverfahren durchführen zu lassen. Die internationale Aufsichtsbehörde selbst forderte auch die Ukraine auf, die militärischen Handlungen einzustellen. „Ich bitte beide Seiten dieses bewaffneten Konflikts, mit der IAEO zusammenzuarbeiten und so bald wie möglich eine Mission zum Kernkraftwerk Saporischschja zuzulassen“, sagte IAEO-Generaldirektor Rafael Mariano Grossi: „Die Zeit ist von entscheidender Bedeutung“. (tu mit dpa/AFP)