20 Jahre nach dem US-Angriff: „Der Irak ist ein gescheiterter Staat“
US-Truppen stürzten 2003 Saddam Hussein, später bekämpften sie im Irak den IS. So geht es dem Land heute.
Islamwissenschaftler Guido Steinberg erklärt im Interview mit der Frankfurter Rundschau die Folgen und aktuelle Situation in dem Land.
Herr Steinberg, im März 2003, vor 20 Jahren, haben die USA den Irak angegriffen – und Langzeit-Diktator Saddam Hussein gewaltsam abgesetzt. In einem Satz beschrieben: Wieso ist das heute noch relevant?
Der Zweite Irakkrieg 2003 ist mit Sicherheit eine der großen Katastrophen der amerikanischen Weltpolitik seit 1917, vielleicht sogar die größte. Mit katastrophalen Auswirkungen für die gesamte Region im und rund um den Irak – bis in die Gegenwart.
Der britische Ex-Premier Tony Blair, der Großbritannien am US-Feldzug beteiligt hat, findet immerhin einen Pluspunkt: Die Welt sei ohne Saddam Hussein besser als mit ihm. Hat er wenigstens an der Stelle Recht?
Blair streicht den einzigen positiven Effekt dieses Krieges heraus, einen Punkt hat er da wohl: Saddam Husseins Regime war ja auch im Nahen Osten eines der schlimmeren Regime, wenn man nur an den Massenmord an den Kurden 1987 denkt. Allerdings ist sein Sturz nur dann positiv zu bewerten, wenn man ihn von den vielen negativen Folgen dieses Krieges abtrennt. Und das geht nicht.
Saddam Hussein ist 2006 zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Davon existiert ein verwackeltes Handyvideo, das um die Welt ging. Welche Resonanz hat das unwürdige Zurschaustellen des Todeskandidaten im Irak selbst bekommen?
Das Video hat einen großen Schrecken ausgelöst – und den Eindruck geweckt, dass Siegerjustiz geübt wird. Das Todesurteil war für viele der Beleg, dass die schiitischen Islamisten, die bei der Wahl 2005 im Irak die Macht übernommen haben, nun Rache nehmen wollten und auch der Einfluss des Iran gestiegen war. Danach sind die Konflikte im Land offen ausgebrochen, es hat zwei Bürgerkriege gegeben.
Über den Experten
Guido Steinberg (54) ist Islamwissenschaftler und arbeitet für die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zuletzt von ihm erschienen ist das Buch „Krieg am Golf. Wie der Machtkampf zwischen Iran und Saudi-Arabien die Weltsicherheit bedroht“ (Droemer 2020).
Sie sagen „offen ausgebrochen“: Der sunnitisch-schiitische Konflikt war ja nichts Neues, allenfalls in der Friedhofsruhe des Regimes eingefroren …
… der war nichts Neues und hat schon vor 2003 eine Rolle gespielt. Der eigentliche Fehler war der Irak-Krieg, gegen den alle anderen Fehler verblassen, die danach gemacht wurden. Die USA haben mit Saddam Hussein einen Faktor aus dem Spiel genommen, der für innenpolitische und zeitweise sogar für regionalpolitische Stabilität gesorgt hat.
Eine despotische Stabilität.
Akteure wie die Saudis waren fassungslos, dass die Amerikaner diesen Krieg begonnen haben, denn es war klar, dass es dadurch zu einer Zuspitzung des Konfliktes zwischen Schiiten und Sunniten im Irak kommen würde. Dazu kam, dass der damalige US-Prokonsul Paul Bremer, der den Irak in der Übergangszeit führte, durch die Auflösung der Armee und der Baath-Partei die wenigen Stabilitätsanker im Irak zerstört hat. Speziell die Armee war die einzige Institution, auf die sich Schiiten und Sunniten einigen konnten. Da haben die USA eine ungeheure politische Dummheit begangen.
Eine Dummheit kann passieren. Aber die US-Regierung des damaligen Präsidenten George W. Bush wollte diesen Krieg um jeden Preis. Es gab ja genügend Warnungen, was in der Folge geschehen würde.
Ja, die Entscheidung diesen Krieg zu führen, war eine einsame amerikanische. Eine Entscheidung, die in einem kleinen Zirkel um Bush und seinen Vizepräsidenten Dick Cheney sowie Verteidigungsminister Donald Rumsfeld getroffen wurde. Ihr Grund war offenbar ein nicht ganz rationaler Hass auf Saddam Hussein. Bei Bush mochte zudem eine Rolle spielen, dass Hussein 1993 einen Anschlag auf seinen Vater George Bush Senior, den früheren Präsidenten, in Auftrag gegeben hatte. Und dann kam der Wunsch hinzu, den Irak zu einer Art Muster-Demokratie zu machen, die in den Nahen Osten ausstrahlen sollte. Ich habe den Eindruck, dass Bush, Cheney und Rumsfeld tatsächlich an die Vorwürfe geglaubt haben, die Außenminister Colin Powell damals im Sicherheitsrat vorgetragen hat.
Die Saudis waren fassungslos, dass die Amerikaner diesen Krieg begonnen haben
Gab es Ihrer Meinung nach wirtschaftliche Gründe für eine Invasion?
Ich glaube, diese spielten keine Rolle. Das ist ein Vorwurf der politischen Linken, dem Vorurteil geschuldet, dass materielle Interessen in den Augen vieler immer Vorrang haben. Die Regierung Bush aber war vielmehr von starken ideologischen Motiven beeinflusst. In Deutschland nennen wir das heute wertegeleitete Außenpolitik.
Ein sehr aktuelles Stichwort, wenn man nur an die Politik der Bundesregierung gegenüber Russland oder China denkt. Der Irak-Krieg zeigt, dass der wertegeleitete Demokratisierungsversuch durch „regime change“ wie ein Pendel ins Gegenteil schlagen kann – und alles danach noch schlimmer wird.
Der zweite Irak-Krieg ist ein Lehrstück, wie man Politik nicht machen sollte. Ganz im Gegensatz zum ersten Irak-Einsatz zur Befreiung Kuwaits, der ein Musterbeispiel einer sehr konservativen Realpolitik war, eben weil man nicht so weit ging, Saddam Hussein zu stürzen. 2003 gingen die USA ausnahmslos ideologisch vor, mit nur wenigen Unterstützern, völkerrechtlich nicht legitimiert.
Hat die Staatenwelt aus dem Irak-Desaster gelernt?
Zumindest gibt es Staaten, die wieder mehr auf Multilateralismus setzen, auch die USA unter Präsident Joe Biden gehören derzeit dazu. Unter Donald Trump war das allerdings anders, wenn auch glücklicherweise nicht mit großen Kriegen wie bei Bush.
Für den Irak-Krieg 2003 gab es kein UN-Mandat. Wie sehr hat dieser völkerrechtswidrige Angriff den Weg geebnet für andere völkerrechtswidrige Kriege wie die russische Aggression in der Ukraine?
Es ist ja weitgehend Konsens, dass der Irak-Krieg ein Fehler war, weshalb er nicht Schule gemacht hat. 2003 gab es in Iran oder Syrien die Sorge, dass die Amerikaner ihre Expansion fortsetzen und sie angreifen könnten. Das ist nicht Realität geworden, auch weil die Amerikaner mit den verheerenden Folgen im Irak beschäftigt waren. Wenn Länder wie Russland oder demnächst vielleicht China offen mit dem Völkerrecht brechen, glaube ich nicht, dass das noch viel mit dem Irak-Krieg zu tun hat.
Ist das so? Potentaten wie Baschar al-Assad in Syrien oder Muammar Gaddafi in Libyen konnten aus Saddams Ende doch nur den Schluss ziehen: Wir müssen uns selbst gegen einen „regime change“ wappnen, womöglich mit Atomwaffen. Iran und Nordkorea sind in dieser Hinsicht am konsequentesten.#
Ja, der Irak-Krieg hat bei den Despoten der Welt dafür gesorgt, dass sie sich besser zu schützen suchen und nicht so schwach bleiben wie Saddam Hussein oder später Gaddafi. Für Iran und Nordkorea ist es fast zwingend geworden, atomar aufzurüsten – vor allem der Aufstieg Irans ist eine direkte Folge der damaligen US-Invasion.
Lassen Sie uns noch einmal ins Land schauen. In den späteren Jahren nach der Invasion, ab 2014, ist der sogenannte Islamische Staat (IS) im Irak stark geworden, und zwar vor allem dank der Schwäche des Staates und seines Zerfalls. Wie hat sich die Situation stabilisiert?
Der Aufstieg des IS ist ohne diesen Krieg nicht denkbar. Er ist primär eine irakische Organisation. Sunnitische Islamisten und enttäuschte Anhänger des Saddam-Regimes haben sich damals zusammengeschlossen, bis heute sind einige Offiziere dabei. 2003 hat es im Irak kaum islamistischen Terrorismus gegeben, dem hat der Krieg erst den Weg gebahnt.
Irak 20 Jahre dem Kriegsbeginn: „Immer noch ein gescheiterter Staat“
Wie ist die Situation heute?
Der IS ist immer noch stark irakisch geprägt, obwohl es viele Ableger gibt. Die Zahlen sprechen für sich: Ich gehe davon aus, dass der IS in Irak und Syrien noch einige Tausend Mann unter Waffen stehen hat. Wir haben es weiterhin mit einer starken Organisation zu tun. Sie mag heute nicht mehr mächtig erscheinen, aber es gibt heute viel mehr Dschihadisten als zu Beginn des Arabischen Frühlings 2011, der IS könnte also wieder erstarken.
Zuletzt sah es so aus, als würde sich die politische Lage beruhigen. Die Anhänger des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadr haben sich weitgehend zurückgezogen, der neue Ministerpräsident Mohammed Shia‘ al-Sudani bemüht sich um Reformen – und hat zuletzt auch in Deutschland um Unterstützung geworben. Außenministerin Baerbock ist im März nach Bagdad gereist. Täuscht der Eindruck, oder stabilisiert sich der Irak?
Ja, ich fürchte, der Eindruck täuscht. Der Irak ist immer noch ein gescheitertes Land. Das größte Problem des heutigen Irak ist das zersplitterte politische System. Es gibt keine Partei und keine Bewegung, die auch nur ansatzweise in der Lage ist, eine Mehrheit zu erringen, auch deshalb, weil die Bevölkerung meist nach Religion oder Volksgruppe wählt. Und diese Gruppen sind untereinander sehr stark zerstritten. Die Situation im Irak ähnelt der des Libanon: Die Iraner kontrollieren mehrere Parteien, das Innenministerium und Teile der Polizei. Dazu gibt es iranloyale schiitische Milizen, die einen Staat im irakischen Staat erschaffen haben, so wie die Hisbollah im Libanon.
Ihr Fazit ist sehr ernüchternd. Keine Hoffnung für den Irak, keine Aussicht auf Besserung?
Im Moment leider nicht. Viele Irakerinnen und Iraker sind äußerst unzufrieden, die Lebensverhältnisse verschlechtern sich stetig, und deshalb gehen viele Menschen den beschwerlichen Fluchtweg nach Europa. Ich befürchte, dass wir da erst den Anfang der Entwicklung sehen.
Interview: Martin Benninghoff