Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
Jetzt sollen sich die Hongkonger gegen die Proteste der Demokratiebewegung wehren. Die Frage, die über dem Aufruf steht: „Hongkonger, werdet ihr weiterhin schweigen?“ Darunter ist die Rede davon, dass man den Demonstranten erlaubt habe, Regierungsgebäude anzugreifen und auch Polizisten, aber aus Großzügigkeit und Verständnis für die Jugend geschwiegen habe. Die Protestler hätten auch Straßen blockiert, Autofahrer und Passagiere und Journalisten angegriffen, weiterhin habe man, als Unbeteiligter, geschwiegen. „Und als sie kamen und mich angriffen, da gab es niemanden mehr, der für mich sprechen und mich beschützen konnte“, endet der Aufruf.
Der Appell an die Bürger ist eine ungewöhnliche Maßnahme mit sprachlichen Mitteln. Trotz der massiven Warnungen vor Gewalt und Repressalien sowie dem Einsatz von Gummigeschossen und Tränengas in den Wochen zuvor, waren am vergangenen Wochenende rund 1,7 Millionen Menschen in Hongkong auf die Straße gegangen. Die massiven Bürgerproteste setzen die Regierung in Hongkong unter Druck. Zeitgleich fordert Chinas Regierung in Peking mehr Einfluss auf die Sonderverwaltungszone. Verharren alle Beteiligten in ihren Positionen, ist die Situation wohl einer Eskalation geweiht. Die dubiose Interpretation von Niemöllers Gedicht in CCTV könnte dazu weiter beitragen.
Hongkong hat sieben Millionen Einwohner. Die Stadt ist als Sonderverwaltungszone organisiert. Die Stadt war von 1843 bis zum 1. Juli 1997 britische Kolonie. Die Rückgabe an China erfolgte Ende der 90er Jahre unter der Maßgabe, dass Hongkong weiterhin ein demokratisches und marktwirtschaftliches System beibehalte. Unter dem Motto „Ein Land, zwei Systeme“ herrscht im Rest der Volksrepublik China weiterhin ein autoritär-sozialistisches System.
Bereits im Sommer 2014 kam es in Hongkong zu Protesten. Damals sollte ein von China kontrolliertes Komitee zur Auswahl der Kandidaten zur Wahl des Hongkonger Regierungschefs eingesetzt werden. Erst danach sollten die Bürger zu Wort kommen. Tausende Hongkonger zogen damals demonstrierend mit Regenschirmen auf die Straße, um sich gegen Sonne, Regen und das Pfefferspray der Polizei zu schützen. Daher wurde die Bewegung auch als „Regenschirm-Revolte“ bezeichnet - der Name gilt auch für die aktuellen Proteste der Demokratiebewegung.
Am 9. Juni 2019 war es zu der ersten Demonstration gegen das aktuell geplante Auslieferungsgesetz gekommen. Daran beteiligten sich bereits mehr als eine Million Menschen. In Hongkong gilt bislang ein unabhängiges Justizsystem. Mit dem neuen Gesetz könnte Bürgern Hongkongs der Prozess in der Volksrepublik China unter den dort geltendem Recht gemacht werden. Regierungskritiker betrachten das Gesetz als einen Versuch, den Sonderstatus Hongkongs zu untergraben.
Zunächst waren die Demonstrationen friedlich verlaufen. Im Juli wurden Demonstranten dann von Schlägertrupps angegriffen. Bei den Einsätzen der Polizei gegen die Protestierenden kommt es regelmäßig zum Einsatz von Schlagstöcken, Gummigeschossen und Tränengas.
Was fordern die Demonstranten? Zu den Kernforderungen gehören eine dauerhafte Rücknahme des Auslieferungsgesetzes sowie eine unabhängige Untersuchung der Polizei-Taktik und eine Amnestie für verhaftete Demonstranten. Außerdem kämpft die Bewegung für vollständige Demokratie in der Stadt und den Rücktritt von Hongkongs Regierungschefin Lam.
Hongkongs Regierungschefin Lam hat nach den Protesten die Aussetzung des Auslieferungsgesetzes angeordnet. Zugleich verteidigte sie das Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten.
In chinesischen Medien wurde erst berichtet, als es bei den Demonstrationen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam. Staatsnahe Medien vergleichen die Demonstranten der „Regenschirm-Revolte“ mit Terroristen. Die Regierung in Peking hat zumindest offiziell noch nicht eingegriffen, kritisiert die Proteste aber scharf. Außerdem hat China in direkter Grenznähe zu Hongkong hunderte Spezialkräfte zusammengezogen und hält Manöver ab.
Peking hat auch Pläne veröffentlicht, wonach die südchinesische Metropole Shenzhen das benachbarte Hongkong bald als internationales Finanzzentrum ablösen soll. Staatsmedien berichteten am Montag über ein Richtlinienpapier der chinesischen Regierung, wonach Peking Shenzhen zu einem „besseren Ort“ als Hongkong machen will. Auch eine engere Vernetzung Shenzhens mit den Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macau ist demnach vorgesehen.
nai/dpa/AFP