Folgenreiches Versäumnis in Merkels Regierung: Göring-Eckardt warnt - „Fünf nach zwölf“ für ganze Branche?

Milliarden gibt die GroKo in der Corona-Krise an die Wirtschaft - doch ein Feld leidet weiter massiv: Die Kultur. Katrin Göring-Eckardt warnt im Interview: „Liebgewonnenes wird fehlen“.
- Mit „Wumms“ will die Bundesregierung durch die wirtschaftlichen Probleme der Corona-Pandemie finden.
- Milliarden werden ausgeschüttet - doch viele Kulturschaffende stehen weiter im Regen.
- Grüne-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt zeigt sich im Interview verwundert über Versäumnisse - und warnt vor unwiederbringlichen Verlusten in der deutschen „Kulturlandschaft“.
Berlin/München - Auf seinen „Wumms“ gegen die Corona-Wirtschaftskrise war Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz sichtlich stolz. Tatsächlich sind seit dem Frühjahr Milliarden ausgelobt worden - teils im Paket, etwa für die Lufthansa, teils als kleinteiligere Hilfe, beispielsweise im Kurzarbeitergeld*.
Corona trifft die Kultur: Göring-Eckardt warnt im Interview - „In der Branche arbeiten 1,2 Millionen Menschen“
Doch offenbar ist längst nicht an alle gedacht: Der renommierte Musikveranstalter Berthold Seliger holte jüngst in einem Gastbeitrag auf dem Portal heise.de zum Rundumschlag gegen die Corona-Kulturpolitik der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) aus. Für Musiker, Musik-Veranstalter und Veranstaltungsorte etwa gebe es gerade einmal 135 Millionen Euro aus den Milliarden-Paketen, aus Seligers Sicht oft geknüpft an „weltfremde“ Bedingungen. Auch in Markus Söders Bayern gab es zuletzt Kritik am politischen Kurs in diesen Fragen - selbst aus der CSU, wie Merkur.de* berichtete.
Große Sorgen macht sich auch Grüne-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Es sei für viele Kulturschaffende „fünf nach Zwölf“, sagt sie im Interview mit der Ippen-Digital-Zentralredaktion. Es drohe massiver volkswirtschaftlicher Schaden - und unwiederbringlicher Verlust in der deutschen Kultur. Besonders im Visier hat sie Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Kulturstaatsministerin Monika Grütters (beide CDU): Zweitere höre offenbar nicht zu - Ersterer müsse „jetzt endlich liefern“.
Corona-Krise: Vergisst Merkels GroKo die Kultur? „An vielen Orten werden liebgewonnene Ereignisse fehlen“
Ippen-Digital-Zentralredaktion: Die Kultur- und Veranstaltungsbranche leidet massiv unter den corona-bedingten Einschränkungen - vor allem Selbstständige und private Unternehmer. Wie ernst ist die Lage Ihrer Einschätzung nach?
Katrin Göring-Eckardt: Sehr ernst, die Branche leidet massiv. Es ist eigentlich bereits Fünf nach Zwölf, denn erste Künstler, Clubs, kleine Theater und Unternehmen der Kulturwirtschaft haben bereits aufgegeben oder stehen kurz davor. Das ist nicht nur ein Verlust von Kreativität, Wissen und Unterhaltung, sondern auch ein massiver volkswirtschaftlicher Schaden. In der Branche arbeiten 1,2 Millionen Menschen, sie erwirtschaftet rund 110 Milliarden Euro. Am Ende der Pandemie wird unsere Kulturlandschaft eine ganz andere sein und das heißt, dass an vielen Orten liebgewonnene Kulturereignisse fehlen werden.
Haben Sie eine Erklärung, warum die Bundesregierung die Belange dieser Gruppen bislang kaum beachtet, während andere Branchen, oder auch staatliche Kulturinstitutionen, wesentlich besser gestützt werden?
Ich habe in den letzten Wochen mit vielen Betroffenen gesprochen und höre dort immer wieder, dass die verschiedenen Hilfsprogramme die Situation in der Kultur- und Kreativbranche nicht ausreichend berücksichtigen. Kurz gesagt: Die Hilfen kommen nicht an. Nehmen wir zum Beispiel die Hilfen bei den Betriebskosten. Die entstehen bei vielen gar nicht, die zu Hause üben oder allenfalls ein kleines Büro unterhalten. Stattdessen wird Unterstützung bei den Lebenshaltungskosten benötigt, aber dafür werden Künstler in die Grundsicherung gedrängt. Dabei sind sie nicht arbeitslos, sie dürfen gar nicht arbeiten. Deshalb fordern wir ein bundesweites Selbstständigengeld für die Freischaffenden.
Corona-Krise und die Folgen für die Kultur: Göring-Eckardt vermisst „Anstrengung in Merkels Regierung“ - „Altmaier muss endlich liefern“
Der Konzertveranstalter Berthold Seliger hat der Bundesregierung mit Blick auf geplante Hilfen für die Kultur „Wirklichkeitsfremdheit“ vorgeworfen - würden Sie hier zustimmen? Mangelt es an Expertise?
In einer Krise wie dieser braucht es vor allem Vorausschau und die Bereitschaft, auch mal unkonventionelle neue Wege zu gehen. Es gibt keine Karte und keinen Kompass, die uns da durchnavigieren. Es kommt also darauf an, sehr genau zuzuhören und gemeinsam mit den Betroffenen nach neuen Lösungen zu suchen. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Bundesregierung hier wirklich angestrengt hat. Es wundert mich schon, dass die Kulturstaatsministerin nicht in der Lage zu sein scheint, aufmerksam zuzuhören und für passende Branchenhilfen zu kämpfen.
Wirtschaftsminister Altmaier hat nun weitere Hilfen in Aussicht gestellt. Rechnen Sie mit Besserung für Kulturschaffende - und was sind aus Ihrer Sicht die dringendsten Bedürfnisse dieser Gruppe?
Worten müssen Taten folgen, er muss jetzt endlich liefern. Den Kulturschaffenden und Selbstständigen steht das Wasser bis zum Hals. Wirtschaftsminister Altmaier hat ja mit dem angekündigten Unternehmerlohn einen Vorschlag von uns aufgegriffen. Den muss er nun umsetzen und mit unbürokratischen Hilfen den Weg frei machen. Und vor allem muss den Betroffenen besser zugehört werden, damit schneller klar ist, an was es fehlt.
An den wirtschaftlichen Corona-Maßnahmen der Bundesregierung gab es im Oktober auch weitere Kritik: Die teure Mehrwertsteuersenkung etwa drohe zu verpuffen, hieß es aus mehreren Instituten.
Interview: Florian Naumann (*Merkur.de ist Teil des Ippen-Digital-Netzwerks.)