China im Omikron-Tsunami: Regierung zählt die Infizierten einfach nicht mehr – doch Virus breitet sich rasant aus

China ist in Angst vor dem Omikron-Tsunami. Soziale Medien sind voller Berichte über hohe Krankenstände und überfüllte Kliniken. Doch offiziell sinken die Zahlen. Denn Peking definiert die Zahlen einfach neu.
Peking/München – Alle sind krank, doch die offiziellen Fallzahlen sind im Sinkflug. So lässt sich zugespitzt die Lage in China beschreiben. Vor allem in Peking scheint ein rasant anschwellender Omikron-Tsunami zu wüten. Nutzer erzählen in Sozialmedien, dass sich die Hälfte ihrer Freunde oder Kollegen Covid-19 eingefangen haben, sie ätzen über offizielle Null-Tote-Statistiken oder wünschen sich aus Angst vor Ansteckung im Supermarkt die Null-Covid-Politik zurück. Auch Blutspenden sollen zurückgehen, weil potenzielle Spender sich nicht in die Kliniken trauen. Videos zeigen überfüllte Krankenstationen und menschenleere Straßen in Peking. An Straßenecken stapeln sich dort Pakete, die nicht ausgeliefert werden können, da zu viele Fahrer der Kurierdienste Covid-19 haben.
„Eine anonyme Umfrage unter 160.000 Einwohnern Pekings hat ergeben, dass ein Drittel bereits mit Covid-19 infiziert ist“, twitterte am Mittwoch Huang Yanzhong, Gesundheitsexperte von der US-Denkfabrik Council of Foreign Relations. Der Anwalt und frühere Vorsitzende der US-Handelskammer in China James Zimmermann berichtete von seinem Arbeitstag: „Videogespräch mit meinem Büro in Peking mit allen Mitarbeitern. 90 Prozent der Leute haben Covid (vor ein paar Tagen waren es noch 50 Prozent). Einige sind ganz offensichtlich unglücklich. Viele pflegen Kinder/Eltern zu Hause. Unsere ‚Arbeit zu Hause‘-Politik lautet jetzt ‚Arbeit zu Hause, wenn es dir gut genug geht‘“. Omikron sei wie ein „führerloser Güterzug“ angerauscht, so Zimmermann.
China: Anzeichen für Riesen-Omikron-Welle widersprechen offiziellen Zahlen
Das sind zwar keine verlässlichen Statistiken. Doch die Anzeichen einer Mega-Welle sind wenige Tage nach dem überraschenden Ende der strikten Null-Covid-Politik unübersehbar. Die Impfquote ist zu niedrig, und kaum jemand hat sich in dem hermetisch abgeriegelten Land bisher durch eine Infektion immunisiert. Prognosen von Hunderttausenden Covid-Toten erscheinen – vor allem im Vergleich etwa zu gut einer Million Covid-Toten in den besser durchgeimpften USA – geradezu optimistisch.
Trotzdem gehen die offiziellen Zahlen der Neuinfektionen Tag um Tag zurück – so als müsste die Regierung ihre Corona-Kehrtwende mit sinkenden Krankenzahlen rechtfertigen. Nach einer Phase mit weit über 30.000 neuen Fällen pro Tag im November meldete die Nationale Gesundheitskommission für Montag nur noch gut 7600 Fälle. Und seit dem heutigen Mittwoch stürzen die Statistiken weiter ab – durch einen simplen Kniff: Die Behörde meldet einfach nur noch Infizierte mit Symptomen, alle anderen fallen ersatzlos weg. Damit lag die Zahl der aktuellen Neuinfektionen bei schlappen 2.291. Es sei „sinnlos, asymptomatische Patienten statistisch zu erfassen, wenn keiner mehr an der PCR-Testung teilnimmt“, lautete die offizielle Begründung. Die Zahl der Corona-Toten liegt seit Tagen bei null.
Corona-Zahlen: Absurder Rückgang mitten in der Welle
Der Rückgang wirkt angesichts der überall im Netz zirkulierenden persönlichen Berichte absurd. Offenbar gilt das bizarre Credo: Je weniger Menschen wir mitzählen, desto besser ist die Lage. Dazu passt der rasante Abbau der früher allgegenwärtigen PCR-Teststationen in vielen Städten. Im Netz zogen Bilder von Krankenhäusern in Wuhan ihre Kreise, vor denen Schilder den Menschen empfahlen, sich bei Covid-Verdacht nur zu Hause selbst zu testen und keinen offiziellen PCR-Test mehr einzuholen. Nur durch diese Tests kommen die offiziellen Fallzahlen zustande: ohne Test also keine Infizierten, so scheint die Logik.
Chinas Regierung hatte die Lockerungen nur wenige Tage nach einer Welle von Protesten gegen die Corona-Maßnahmen in Dutzenden Städten im ganzen Land verkündet. Am Montagabend wurde zudem die wichtigste Corona-App zur Nachverfolgung jeder Bewegung jedes Bürgers deaktiviert. Die vier staatlichen Telekommunikationsunternehmen kündigten an, sie würden die mit der App verbundenen Nutzerdaten löschen. Das ist gut für die Bürger. „Die Hand, die sich während der Epidemie ausstreckte, um Macht auszuüben, sollte jetzt zurückgezogen werden“, zitierte Reuters einen User. Doch zugleich entfallen auch damit Daten, die auf hohe Infiziertenzahlen schließen lassen könnten.
Doch indirekt räumt Peking selbst ein, wie dramatisch die Lage ist, auch wenn sie es nicht sagt: Landesweit hat die Regierung 47.000 zusätzliche Covid-Behandlungszentren an Krankenhäusern einrichten lassen. Es geht Peking nicht mehr darum, die Infektionsketten zu unterbinden - sondern nur noch um eine möglichst gute Behandlung der Covid-Patienten.
China: Nur noch „mit Covid“ verstorben?
Offiziell geht im Land etwas ganz anderes herum: Nach Angaben der Gesundheitskommission vom Montag ist die Zahl der Patienten mit „grippeähnlichen Symptomen und Fieber“ in der Hauptstadt Peking im Vergleich zur Vorwoche um das 16-Fache gestiegen. Man fühlt sich an Nordkorea erinnert, das im Frühsommer jeden Tag Hunderttausende Fälle von neuartigem „Fieber“ vermeldete. China soll damals Covid-19-Testkits nach Pjöngjang geflogen und auch sein Sinovac-Vakzin angeboten haben. Nordkorea lehnte das aber ab – ähnlich wie China bis heute internationale mRNA-Impfstoffe wie Biontech verschmäht.
Bei den Todesopfern scheint Peking nun auf eine sehr großzügige Auslegung dafür zu setzen, wann jemand „mit Covid“ und nicht zählpflichtig „an Covid“ gestorben ist. Die Debatte darüber war auf dem Höhepunkt der Pandemie auch im Westen geführt worden, etwa im Streit um eine Impfpflicht. Also stirbt dann, wer „grippeähnliche“ Symptome hatte, ab sofort offiziell an Grippe und „mit Covid“? Lässt sich eine solche Vernebelungsstrategie durchhalten? Niemand weiß es. Transparenz war jedenfalls nie die Stärke des von der Kommunistischen Partei dominierten chinesischen Systems, das wissen auch die Bürger.
Auch der Begriff „dynamische Null-Covid-Strategie“ verschwand still und heimlich aus den Sitzungsprotokollen des Politbüros und den Reden führender Gesundheitsbeamter – ohne dass es je eine Erklärung für die plötzliche Kehrtwende gab. Staatszeitungen zitierten Gesundheitsexperten mit den Worten, Omikron sei eben nicht mehr so gefährlich wie frühere Varianten. Das stimmt zwar in China genauso wie bei uns, doch Omikron dominiert das Geschehen in der Volksrepublik schon seit Monaten.
Experten erkennen das Problem: Omikron breitet sich in ganz China aus
Aber nicht jeder macht das Spiel mit dem verschwundenen Virus vollständig mit: Der führende Covid-Experte des Landes Zhong Nanshan wies bereits am Sonntag darauf hin, dass die offiziell gemeldeten landesweiten Rückgänge der Fälle nicht die Realität widerspiegelten, da viele Menschen sich einfach nicht mehr testen ließen. In Wirklichkeit breite sich die Omikron-Variante im ganzen Land rasant aus, zitierten ihn Staatsmedien.
Auch der frühere Vizedirektor des nationalen Gesundheitsamtes, Feng Zijian, ging laut Staatsmedien davon aus, dass sich mittelfristig 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus anstecken werden. Selbst der als Nationalist bekannte Blogger Hu Xijin, ehemaliger Chefredakteur einer Staatszeitung, stellte fest, Peking sei jetzt das Epizentrum einer rasanten neuen Infektionswelle: „Ich glaube, das, was wir hier erleben, muss eine der heftigsten Virusübertragungsgeschwindigkeiten in der Welt seit dem Ausbruch der COVID-Pandemie sein.“ Nur die Partei scheint das nicht sehen zu wollen.