Chinas Ex-Präsident Jiang Zemin mit 96 Jahren gestorben – einer der letzten Kritiker von Staatschef Xi Jinping
Im Alter von 96 Jahren ist Chinas Ex-Präsident Jiang Zemin gestorben. Er hatte das Land nach dem Blutbad auf dem Tiananmen-Platz 1989 übernommen und führte es zurück in die Welt. Viele Menschen trauern.
Peking/München – Der Shanghaier Parteichef Jiang Zemin wurde im Sommer 1989 in einer Nacht- und Nebelaktion aus seiner Hafenmetropole nach Peking geflogen, um Generalsekretär der Kommunistischen Partei zu werden. Einer Partei, die gerade im Herzen der Hauptstadt Hunderte von Demonstrierenden hatte töten lassen. Die Welt wandte sich entsetzt ab. Doch nur zwölf Jahre später führte Jiang China die Welthandelsorganisation WTO und ließ mit Chinas reichen Selfmade-Unternehmern den einstigen „Klassenfeind“ in die Partei. Auch die Rückkehr der britischen Kronkolonie Hongkong nach China fiel in seine Amtszeit – sowie 2001 der Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele in Peking sieben Jahre später.
Jiang Zemin internationalisierte das Land trotz des Makels, den es durch das Massaker an der Demokratiebewegung erhalten hatte, in rasantem Tempo; er setzte auf Wachstum und lockerte die Zügel der Wirtschaft. Die Welt begann auf wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Riesenland zu setzen, das Blutbad verschwand aus der Tagespolitik. Jiang empfing schon bald Staatenlenker aus aller Welt; unter anderem traf er mehrfach die damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Die Chinesinnen und Chinesen wurden ermutigt, Fremdsprachen und vor allem Englisch zu lernen. Viele studierten im Ausland. Eisern aber blieb Jiang ebenso wie die meisten KP-Granden beim Herrschaftsanspruch der Partei. Politische Reformen oder mehr Meinungs- und Pressefreiheit waren für ihn tabu: „Chinas politisches System darf niemals erschüttert werden.“ Das Thema Menschenrechte bestimmte auch damals immer wieder die Beziehungen zum Westen.

Am Dienstag nun ist Jiang Zemin – Parteichef von 1989 bis 2002 sowie Staatspräsident von 1993 bis 2003 – mit 96 Jahren gestorben. Bis zuletzt soll er versucht haben, hinter den Kulissen Strippen zu ziehen, doch sein Einfluss sank parallel zum Machtzuwachs des heutigen starken Mannes Xi Jinping, der seit 2012 im Amt ist. Xi, so erscheint es derzeit, dreht vieles von dem wieder zurück, das Jiang und sein Ministerpräsident Zhu Rongji zur Jahrtausendwende angestoßen hatten: große Freiräume für Privatfirmen, Schließung maroder Staatsfirmen, größere individuelle Freiheiten – etwa bei Berufswahl oder Heirat, worüber in der Mao-Ära noch die Partei gewacht hatte. Heute bemüht sich die KP unter Xi, wieder mehr Einfluss zu bekommen auf Unternehmen und auf das Leben der Menschen. Wohin das führt, ist ungewiss.
Chinas Ex-Präsident Jiang Zemin: Tod nach langer Krankheit
Seit Monaten kursierten immer wieder Gerüchte um einen baldigen Tod Jiangs, zuletzt in der vergangenen Woche. Auf dem Parteitag der Kommunisten im Oktober war Jiang nicht erschienen. Öffentlich gesehen wurde er zuletzt bei einer Militärparade im Oktober 2019. Seither lebte er zurückgezogen in Shanghai. Die Website der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua zeigte sich am Mittwoch ganz in Schwarzweiß, in großen schwarzen Schriftzeichen prangte als Aufmacher, ohne Bild, die Todesnachricht. „Genosse Jiang Zemin“ sei infolge einer Leukämie-Erkrankung und nach mehrfachem Organversagen gestorben, hieß es darin. Alle Rettungsversuche seien fehlgeschlagen. Xinhua pries den Verstorbenen als „herausragenden Anführer mit hohem Prestige.“
Und das, obwohl Jiang ebenso wenig wie sein Nachfolger Hu Jintao nicht als Förderer des heutigen Staats- und Parteichef Xi Jinping galt. Die Distanz soll gegenseitig sein. Unter anderem stürzte Xi mithilfe seiner Anti-Korruptionskampagne mehrere hochrangige Politiker aus dem Netzwerk des Ex-Präsidenten in Partei und Militär, von denen sicherlich viele auch tatsächlich Dreck am Stecken hatten. Xi wehrte sich mit der Kampagne aber auch gegen Widerstand in der Partei gegen seinen Aufstieg. 2015 kritisierte das Parteiorgan Volkszeitung nicht näher genannte „pensionierte Führer“, die sich an die Macht klammerten und weiter einmischten – was als Botschaft an Jiang Zemin verstanden wurde. Es wurde still um ihn. An der Form seines Begräbnisses dürfte sich in ein paar Tagen zeigen, welchen Status Jiang im heutigen China noch genießt.
Jiang Zemins Lebenslauf
Der am 17. August 1926 in der Jangtse-Stadt Yangzhou geborene Jiang Zemin war über Staatsfirmen, Ministerämter und Provinzposten schrittweise aufgestiegen. Unter anderem war er zu Beginn seiner Karriere Fabrikdirektor des Staatskonzerns First Automobile Works (FAW), heute Joint Venture-Partner von Volkswagen. 1985 wurde Jiang Bürgermeister von Shanghai, zwei Jahre später Parteichef der Metropole, was das höhere der beiden Ämter ist.
Dann kam die entscheidende Nacht. Nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 und dem Sturz des für politische Reformen aufgeschlossenen Parteichefs Zhao Ziyang suchte Patriarch Deng Xiaoping – damals der oberste Elder Statesman, der die Strippen weiter zog – einen unbelasteten Kompromisskandidaten für den Spitzenjob. Jiang erschien ideal: Er hatte sich während der Unruhen im Mai 1989 zwar für das Kriegsrecht ausgesprochen, war aber gegen Gewalt gewesen. Studierendenproteste in Shanghai löste er ohne Blutvergießen auf. In der offiziellen Würdigung Jiangs am Dienstag war nun bei Xinhua vage von dem „ernsten politischen Aufruhr“ Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre in China und in der Welt die Rede. An diesem „historischen Scheideweg“ habe Jiang Zemin die Partei, das Militär und das Volk angeführt, um den Sozialismus chinesischer Prägung voranzubringen.
Jiang Zemin: Öffnung der Partei für Privatunternehmer
Jiang Zemin war kein Demokrat, nur ein paar parteiinterne Reformen für die Auswahl von Kadern stieß er an. Doch er hielt sich an die von Patriarch Deng ausgegebene Prämisse, dass Staats- und Parteichefs nach zwei Amtszeiten abtreten müssen. Zwar war auch er bei seinem Rückzug auf dem Parteitag im November 2002 bereits 76 Jahre alt. Doch sein Nachfolger Hu Jintao stand da bereits fünf Jahre als Nachfolger fest. Ein Nachfolger für Xi Jinping ist derweil weit und breit nicht in Sicht.
Auch Jiang gelang es auf seinem letzten Parteitag als Chef, Günstlinge ins Amt zu bringen und seine politischen Theorien in der Parteicharta zu verankern. Sechs der damals neun Mitglieder des höchsten Machtgremiums, des Ständigen Ausschusses des Politbüros, gehörten zu Jiangs Shanghai-Fraktion, die er sich über die Jahre aufgebaut hatte. Seine Theorie der „Drei Vertretungen“ öffnete die Partei für breitere Gesellschaftsschichten, zu denen die sogenannten „fortschrittlichen Produktionskräfte“ gehörten: Parteisprech für Privatunternehmer. Für eine Kommunistische Partei war das ein Paradigmenwechsel. „Jiang ist auf dem Gipfel seiner Macht“, urteilte damals der Hongkonger Politikwissenschaftler Jean-Pierre Cabestan.
Jiang Zemin: Rampenlicht-Fan und Strippenzieher
Nachfolger Hu Jintao musste mit der Einmischung des Seniors leben – und die negativen Folgen seiner erfolgreichen „Wirtschaftswachstum zuerst“-Politik abmildern. Die Schere zwischen Arm und Reich war aufgegangen, das Sozialsystem unterentwickelt. Beides wurde zum Schwerpunkt der Hu-Ära.
Der zur Eitelkeit neigende Jiang genoss stets das Rampenlicht, zitierte öffentlich traditionelle chinesische Gedichte oder versuchte ausländische Staatsgäste mit seinen umfangreichen Kenntnissen von Goethe oder Shakespeare zu beeindrucken. Im Alter von 71 Jahren machte er Schlagzeilen, als er 1997 während eines Staatsbesuchs in den USA auf Hawaii Ukulele spielte und seine Fähigkeiten im Singen der Peking-Oper ausprobierte. Er sei „auf eine Weise der erste moderne Präsident Chinas“ gewesen, schrieb Willy Lam, Autor einer Biografie über den Politiker.

In den trostlosen Zeiten von Null-Covid, wachsender Repression und wirtschaftlicher Schwierigkeiten wird Jiang verklärt, der seit Jahren unter jungen Leuten eine Art Kultfigur ist. Im Netz zirkulieren Memes, wie Jiang gähnt, grinst oder wütend mit den Fingern wedelt. Auch zirkuliert ein Video von Jiang, wie er fröhlich eine Kapelle dirigiert. Viele sehen Jiang als Symbol für bessere Zeiten, sagt ein Manager in Peking. Hunderttausende kondolierten auf der Website des Staatssenders CCTV oder im Online-Dienst Weibo. Einzelne versteckte Angriffe gegen Xi Jinping löschten die Zensoren sofort: Etwa Posts in Anspielung auf Xi und seinen verbotenen Spitznamen: „...kannst du Winnie the Pooh entfernen?“ User teilten Videos mit Links zu dem Song „Shame it Wasn‘t You“ (Was für ein Jammer, dass es nicht du warst) in Bezug auf Xi. „Rückblickend betrachtet war die Jiang-Ära politisch fortschrittlich“, sagte der amerikanische China-Experte und Autor eines Buchs über Chinas Parteichefs seit Mao David Shambaugh einmal in einem Interview: „Insbesondere im Vergleich zu heute.“