Der Milliarden-Dollar-Streit: Ist China ein Entwicklungsland?

Es geht um Milliarden: China definiert sich auf der Weltbühne als Entwicklungsland. Damit steht Peking beim Welthandel oder beim Klimaschutz eine Vorteilsbehandlung zu. Der Unmut darüber wächst.
Peking/Frankfurt – Ist China ein Entwicklungsland oder nicht? Diese Frage sorgte zuletzt auf der Weltklimakonferenz COP27 in Ägypten für Zündstoff. Denn es geht um viel Geld. Entwicklungsländern stehen im Klimaschutz Privilegien zu, mit denen sie viel Geld sparen. Vor allem dürfen sie sich mehr Zeit lassen für ihre Klimaziele. Im Jargon der Vereinten Nationen wird dieses Konzept als „gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung“ bezeichnet. Beim Klimaschutz bedeutet das: Reiche Länder müssen – auf Basis des Verursacherprinzips – einen größeren Beitrag leisten. Denn sie haben schon viel länger und viel mehr Treibhausgase in die Atmosphäre geblasen als ärmere Länder.
Chinas Wirtschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten rasant gewachsen; das Land ist auch aufgrund seiner Größe inzwischen der größte CO2-Emittent der Welt. Und doch beharrt China stoisch auf seinem Status als Entwicklungsland – um möglichst wenig Verantwortung übernehmen zu müssen, wie Kritiker monieren. Viele internationale Organisationen stufen China bis heute als Entwicklungs- oder Schwellenland ein, darunter auch der internationale Währungsfonds IWF. Doch die Debatte darüber läuft zum Beispiel auch in der Welthandelsorganisation WTO – die ebenfalls Entwicklungsländern Privilegien einräumt.
Entwicklungsland-Debatte um China in vielen internationalen Organisationen
Die Milliardenfrage auf der COP27 war im November die Entschädigung armer Länder für die Klimaschäden, die vor allem Industrieländer durch ihre Emissionen verursachen. Schon 2009 hatten die reichen Staaten dafür jährlich 100 Milliarden US-Dollar zugesagt. In keinem einzigen Jahr ist diese Summe zusammengekommen; 2021 waren es gut 83 Milliarden. Das wirft kein gutes Licht auf Europa und die USA. Aber auch China weigert sich hartnäckig, sich an den Zahlungen zu beteiligen.
Dabei holt die Volksrepublik auch beim CO2-Ausstoß pro Kopf kräftig auf. Im Schnitt emittiere jeder Mensch in China etwa sieben Tonnen CO2 pro Jahr, sagte der bekannte Klimaexperte Mojib Latif kürzlich auf der jährlichen China Time-Konferenz in Hamburg. Deutsche emittieren pro Kopf neun Tonnen im Jahr, Inder:innen nur zwei Tonnen. Mit wachsendem Ausstoß schrumpft daher die Akzeptanz für Chinas Haltung – wie sich auf der COP27 zeigte.
Dort schlug die EU vor, einen Fonds zu gründen, aus dem die ärmsten Länder für Klimaschäden entschädigt werden sollten – die letztlich von den großen Emittenten wie den USA und Europa verursacht werden. Der EU-Vorschlag aber wollte die Geberländer auf China und die reichen Golfstaaten ausweiten. Schon zu Beginn der COP27 hatte der Vorsitzende der Aosis-Gruppe gefährdeter, zumeist armer Inselstaaten, Gaston Browne, gefordert, auch China solle sich in Zukunft an der Finanzierung der Klimapolitik beteiligen. Chinas Unterhändler Xie Zhenhua machte dagegen schnell klar, dass China den Fonds zwar gut finde, sich finanziell aber nicht beteiligen werde. Es folgte eine hitzige mehrtägige Debatte. Am Ende beschloss die COP27 den Fonds, vertagte die Entscheidung über die Beitragszahler aber auf die COP28 in Dubai 2023. Chinas Delegation sei mit diesem Ergebnis unzufrieden, hieß es aus Delegationskreisen. Man ahnte wohl, dass da etwas ins Rollen gekommen war.
Debatte über Chinas Status auch bei der Welthandelsorganisation WTO
Die Debatte in der Welthandelsorganisation WTO begann, als der damalige US-Präsident Donald Trump China vor ein paar Jahren vorwarf, es inszeniere sich in der Organisation bewusst als Entwicklungsland. Damit wolle das Land auf unfaire Weise Handelsvorteile erzielen. Zu den Vorteilen, die nach den WTO-Normen den Entwicklungsländern vorbehalten sind, gehören etwa längere Fristen für die Umsetzung von Abkommen, die typischerweise auf den Abbau staatlicher Unterstützung für bestimmte Wirtschaftszweige abzielen. Staatliche Förderung strategisch wichtiger Branchen aber ist in China an der Tagesordnung.
Das Problem: In der WTO gibt es keine Definitionen für diesen Status. Die Mitgliedsländer definieren selbst, ob sie „entwickelt“ oder „Entwicklungsländer“ sind. Dadurch beanspruchte selbst das mittlerweile ziemlich wohlhabende Südkorea bis 2020 erfolgreich den Entwicklungsland-Status. Die USA wollten dem ein Ende setzen und schlugen 2019 vor, die Selbstdeklarierung abzuschaffen und verbindliche Regeln einzuführen. Demnach sollten jene Staaten von der Sonderbehandlung ausgeschlossen werden, die wenigstens eines der folgenden Kriterien erfüllen:
- Einstufung als Staat mit hohem Einkommen durch die Weltbank,
- Mitgliedschaft bei OECD oder G20,
- oder ein Anteil von über 0,5 Prozent am Welthandel.
China erfüllte damals schon zwei Kriterien: Es ist in der G20 und hat einen höheren Anteil am Welthandel. Peking lehnte den Vorschlag natürlich ab. Bis heute ist das Problem der Selbstdefinition nicht gelöst; die WTO ist seit langem gelähmt von Streitigkeiten über verschiedene Themen und bekommt derzeit kaum eine Reform zustande. China sitzt die WTO-Diskussion erstmal aus.
China ist ein Land mit „hohem mittleren Einkommen“
Doch was ist China wirklich? Die Weltbank teilt die Volkswirtschaften der Welt in vier Einkommensgruppen ein – niedriges, unteres mittleres, oberes mittleres und hohes Einkommen. China ist demnach ein Land mit oberem mittlerem Einkommen, ebenso wie etwa die Türkei, Brasilien, Argentinien und Mexiko. Noch dazu liegt die Volksrepublik an der Schwelle zum „hohen Einkommen“. Diese Grenze taxierte die Weltbank am Stichtag im Juli 2022 bei einem Pro-Kopf-Einkommen von 13.205 US-Dollar. Chinas Pro-Kopf-Einkommen lag laut Weltbank im Jahr 2021 mit 12.556 US-Dollar also knapp darunter. Zum Vergleich: Der Wert lag in Indien bei 2.277 US-Dollar, im Schwellenland Indonesien bei 4.292 US-Dollar – und im reichen Deutschland bei 50.802 US-Dollar.
Das Pro-Kopf-Einkommen an Chinas Küste sei inzwischen etwa so hoch wie in Portugal, sagte Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in China, auf der Hamburger China-Time-Konferenz. Doch die Volksrepublik sei eben so riesig wie ein Kontinent, mit gewaltigen Einkommensunterschieden. Diese enormen sozialen und regionalen Ungleichheiten führt China stets als Argument für seinen Status an. Ist China also, wie es einmal der frühere WTO-Direktor Pascal Lamy formulierte, „ein reiches Land mit vielen Armen oder ein armes Land mit vielen Reichen“?
China: Aus für Entwicklungsland-Status könnte teuer werden
Dass auf der COP27 erstmals ärmere Länder Geld von China forderten, stellt Peking vor Probleme. „Der schwierige Teil für China wird darin bestehen, seine Haltung beizubehalten, ohne seine Glaubwürdigkeit bei den Entwicklungsländern zu beschädigen“, kommentierte die Denkfabrik Trivium Netzero in Peking nach der COP27. Es sei sehr wichtig gewesen, dass es durch die Entscheidung für den Entschädigungs-Fonds nur für die ärmsten Staaten „einen Riss in die Mauer zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern“ gegeben habe, sagte auch Jennifer Morgan, Klima-Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, nach der COP27 zur Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA. „Allein deswegen hat es sich gelohnt, das zu machen.“ Die Grenzen beginnen sich zu verwischen.
Peking wiederum weist immer wieder darauf hin, dass es der Westen gewesen sei, der über ein Jahrhundert lang seinen Reichtum ungestraft auf der Grundlage fossiler Brennstoffe aufbauen konnte. Das ist nicht falsch. Auch stimmt es, dass Teile der chinesischen Emissionen aus Fabriken stammen, die Produkte für Europa und Amerika herstellen.
China will sich nicht in dien Pflicht nehmen lassen, aber engagiert durchaus. China werde mehr freiwillige, direkte Klima-Hilfe über die sogenannte Süd-Süd-Zusammenarbeit anbieten, erwarten die Trivium-Analysten. Das stellte Peking bereits in Aussicht. Denn die Volksrepublik profitiert von guten Beziehungen zu den Entwicklungsländern.
Und wenn es selbst am Hebel sitzt, kann China dann auch multilateral durchaus konstruktiv agieren, wie auf der kürzlich zu Ende gegangenen Artenschutzkonferenz COP15 unter chinesischer Präsidentschaft. Staatschef Xi Jinping hatte bereits vorab einen globalen Artenschutzfonds angekündigt, in den China auch einzahlen wolle. Und zum Abschluss der COP15 in Montreal setzte der chinesische Verhandlungsführer, Umweltminister Huang Runqiu, das Abschlussabkommen am Montag gegen den Widerstand mehrerer Entwicklungsländer durch. Das war für viele Beobachtende eine echte Überraschung.