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Corona-Übertragung: Neue Erkenntnis würde die Abstandsregel völlig ad absurdum führen

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Von: Marcus Giebel

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Wer sich an die geltenden Vorsichtsmaßnahmen hält, ist in der Corona-Krise weitgehend geschützt. So dachten wir bislang. Doch das Virus scheint auch über Distanzen übertragen werden zu können.

München - Superspreader stellen eine immense Gefahr für die Menschheit dar. Denn mit diesem Begriff werden Personen beschrieben, die eine große Zahl an Personen mit einer Krankheit anstecken. Wie jetzt etwa mit Covid-19. Natürlich tun sie das in den allermeisten Fällen nicht absichtlich - zumeist ist die eigene Infektion schlicht nicht bekannt. Aber diese Superspreader konterkarieren eben auch alle Maßnahmen zur Eindämmung der aktuellen Pandemie. Und können die in diesem Zusammenhang so heilige Reproduktionszahl wieder in die Höhe schnellen lassen.

Video: Aktuelle Zahlen zur Covid-19 Pandemie in Deutschland

Ein Superspreader-Fall in den USA hat die Wissenschaft nun bei der Erforschung von SARS-CoV-2* in eine neue Richtung gelenkt und eine folgenschwere Erkenntnis offenbart. Demnach überträgt sich das neuartige Virus nicht nur nicht durch Tröpfchen, sondern auch über Aerosole. Denen ist weitaus schwieriger beizukommen. Dass eine Übertragung über Aerosole möglich sein könnte, ist dabei nicht ganz neu. Bereits zuvor gab es Studien, die in diese Richtung wiesen. Doch bislang ist der Verbreitungsweg nicht bestätigt. Das Robert-Koch-Institut schreibt etwa auf seiner Homepage zu Aerosolen abschließend: „Auch wenn eine abschließende Bewertung zum jetzigen Zeitpunkt schwierig ist, weisen die bisherigen Untersuchungen insgesamt darauf hin, dass SARS-CoV-2-Viren über Aerosole auch im gesellschaftlichen Umgang übertragen werden können.“ 

Coronavirus-Übertragung durch Aerosole: Fast komplette Chorgruppe infiziert sich beim Singen

Aber erst einmal zurück zum konkreten Fall im Bundesstaat Washington. Dort traf sich Anfang März eine Chor-Gruppe - schon damals unter Corona-bedingten Sicherheitsvorkehrungen*. Es gab keine herzlichen Begrüßungen, Desinfektionsmittel* standen allen Mitgliedern zur Verfügung, die Abstandsregeln wurden eingehalten.

Dennoch erkrankten in der Folge allem Anschein nach 53 von 61 Anwesenden an Covid-19. Bei 33 schlugen Tests an, 20 weitere zeigten Symptome*. Drei Personen mussten sogar im Krankenhaus behandelt werden, für zwei von ihnen kam jede Hilfe zu spät. Diese Infektionskette wurde von einem einzigen Chor-Mitglied ausgelöst, das während des gemeinsamen Singens das Virus in sich trug.

Lesen Sie dazu: Im März griff das Coronavirus in Deutschland so richtig um sich. Doch schon im Januar gab es die ersten Fälle. Diesen geht eine Studie auf die Spur - und zeigt wie sich das Coronavirus von Patient 0 aus in Deutschland verbreiten konnte.

Coronavirus-Übertragung durch Aerosole: Abstandhalten reicht wohl zum Schutz nicht aus

Laut Spiegel ereignete sich ein ähnlicher Fall in der Berliner Domkantorei. Hier trafen sich 80 Chorsänger, mehr als 30 von ihnen infizierten sich. Dabei waren auch hier die wichtigsten Vorsichtsmaßnahmen strikt eingehalten worden.

Diese Erfahrungen ließen letztlich nur einen Schluss zu: Das neuartige Coronavirus wird beim Niesen, Husten oder Sprechen nicht nur durch Tröpfchen verteilt, sondern auch durch die bereits erwähnten Aerosole. Diese halten sich deutlich länger in der Luft, womit Distanzwahren eben kein ausreichender Schutz vor einer Ansteckung* mehr wäre.

Coronavirus-Übertragung durch Aerosole: US-Studie offenbar Aerosol-Verteilung durch Sprechen

Zu diesem Schluss kommt auch eine US-Studie. In dieser sprachen Probanden in einem geschlossenen Raum 25 Sekunden lang den Satz „Stay healthy“  - also „Bleib gesund“ - vor sich hin. Vor allem das „th“ im zweiten Wort wurde als guter Maßstab angesehen, da dessen Aussprache viele Tröpfchen hervorrufe. Das Ergebnis des Tests: Hochgerechnet auf eine Minute würden in geschlossenen Räumen beim Sprechen mehr als 1000 virusverseuchte Tröpfchen freigesetzt werden, die sich länger als acht Minuten in der Luft halten würden.

Laut dem Aerobiologen Donald Milton könnten sogar einfaches Atmen genügen, um Aerosole in der Luft zu verteilen. Der Experte für Infektionskrankheiten testete mit seinem Team den Ausstoß von Probanden mit Grippesymptomen und kam zu dem Schluss: „Sie mussten nicht husten, um Viren auszuwerfen.“ Allerdings sei nicht klar, ob diese so freigesetzten Aerosole bereits eine Ansteckung hervorrufen könnten.

Versuchsaufbau: Eine US-Studie kam den Aerosolen auf die Spur.
Versuchsaufbau: Eine US-Studie kam den Aerosolen auf die Spur. © AFP / MANUELA BUONANNO

Coronavirus-Übertragung durch Aerosole: RKI sieht Abhängigkeit von Lautstärke beim Sprechen

Das Robert-Koch-Institut (RKI) beschreibt die Aerosole als Tröpfchenkerne, die kleiner als fünf Mikrometer seien. Also für das menschliche Auge unsichtbar. Die Experten verweisen auf eine „Studie mit experimentell erzeugten und mit SARS-CoV-2-Viren angereicherten Aerosolen“, derzufolge „vermehrungsfähige Viren bis zu drei Stunden nachweisbar“ seien. Diese „künstliche mechanische Aerosolproduktion“ unterscheide sich jedoch grundlegend vom menschlichen Ausstoß.

Studien hätten jedoch gezeigt, dass Aerosole „beim normalen Sprechen und in Abhängigkeit von der Lautstärke“ freigesetzt würden und das Virus übertragen könnten. Das RKI nennt als Beispiel einer Verbreitung das Singen in der Gruppe. Eine abschließende Beurteilung sei jedoch noch schwierig.

Übringens: In einer anderen Studie beschäftigten sich unter anderem Forscher vom RKI mit der Frage, ob ein Infizierter das Coronavirus bereits auf andere übertragen kann, bevor er erste Symptome zeigt. Die Erkenntnisse der Wissenschaftler sind ernüchternd

Coronavirus-Übertragung durch Aerosole: Unter freiem Himmel ist diese Gefahr gebannt

Der Virologe Christian Drosten* betont in der SZ jedoch: „Ich denke, man muss davon ausgehen, dass Aerosol-Übertragung stattfindet.“ Der Coronavirus-Experte verweist dabei auf Ergebnisse aus Hongkong: Dort sind die Hälfte der von Menschen ausgeschiedenen Viren in Aerosolen zu finden.

Die Schlussfolgerung: Das Leben sollte mehr und mehr nach draußen verlagert werden. Denn unter freiem Himmel gelte: „Das weht eh weg, was über Aerosol-Übertragung verbreitet wird.“ Alternativ müssten die Fenster aufgerissen werden, um eine Luftzirkulation zu gewährleisten.

Geht von einer Virus-Übertragung durch Aerosole aus: Christian Drosten ist Virologe an der Berliner Charité.
Geht von einer Virus-Übertragung durch Aerosole aus: Christian Drosten ist Virologe an der Berliner Charité. © dpa / Michael Kappeler

Über allen Entwicklungen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie in Deutschland berichten wir in unserem News-Ticker. Auch über die politischen Entscheidungen halten wir Sie auf dem Laufenden. Welche neue Studie zur Coronavirus das Robert-Koch-Institut kürzlich gestartet hat und wie sie genau ablaufen soll, lesen Sie ebenfalls bei Merkur.de*.

Wie lange bin ich ansteckend, wenn ich das Coronavirus habe? Auf diese Frage könnte eine Studie nun Antworten liefern.

Es kommt derweil zu immer mehr Demonstrationen von Gegnern der Einschränkungen. So haben auch die Verschwörungstheoretiker* derzeit Hochkonjunktur. Die Politik blitzt mit einer Impfstoff-Forderung bei der Pharmaindustrie ab - diese nennt zugleich ein grundlegendes Problem.

Die Fleischindustrie gerät in der Corona-Krise unter Druck - auch ein CSU-Politiker fordert eine Preiserhöhung.

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mg

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