Zwischen Leben und Tod

Eigentlich ist es nur eine kleine Geschichte. Und doch erzählt sie die ganz große Geschichte: die, von den Dingen, die wichtig sind im Leben. Von denen, die man bisher zu wenig beachtet hat. Und von denen, die man niemandem mehr weitererzählen kann. Es ist die Neuentdeckung eines 80 Jahre alten Romans, der heute genauso aktuell ist wie damals.
Ein falscher Schritt und schon gerät das ganze Leben aus den Fugen. Nichts ist mehr, wie es war, alle Selbstverständlichkeiten sind mit einem Mal einfach weggewischt. So geht es Henry Preston Standish. Der New Yorker Geschäftsmann geht aus Versehen über Bord - ausgerechnet am 13. Tag seiner Schiffsreise. Und da treibt er nun mitten im Pazifischen Ozean und hofft. Nein, eigentlich ist er sich sicher, dass er gerettet wird. Denn im Grunde hängt er an dem Leben, vor dem er geflohen ist. Er wollte nur eine Auszeit nehmen, weg vom Job als erfolgreicher Börsenmakler, weg von der Familie, der überaus verständnisvollen Ehefrau und den beiden drei- und fünfjährigen Kindern. Der Tod war bei seinen Fluchtplänen keine Option. Die ganze Angelegenheit ist ihm furchtbar unangenehm.
Sonne als einziger Fixpunkt
Und so blickt er mit kühlem Kopf auf seine sicherlich bevorstehende Rettung, verhält sich vernünftig, verfällt nicht in Panik. Er schmiedet Pläne, malt sich aus, wie er von diesem Abenteuer berichtet. Doch was nützen Abenteuer, wenn man sie mit niemandem teilen kann? Wenn sie mit Standish im Ozean versinken? Der einzige Fixpunkt ist die Sonne, die bei Standishs Sturz von der S.S. Arabella gerade aufgeht. Erbarmungslos steigt und sinkt sie, zählt die Stunden und nimmt die Hoffnung mit sich.
»Gentleman über Bord« von Herbert Clyde Lewis ist eine Parabel auf das Leben. Da treibt ein Mensch mitten im Ozean, irgendwo zwischen Hawaii und Panama, und ist völlig auf sich alleine gestellt. Die einzige, aber alles bestimmende Herausforderung ist es, sich über Wasser zu halten. Keine Wellen, keine Haie erschweren das Unterfangen, aber es gibt auch keine Erleichterung. Standish muss sich ganz auf seine Fähigkeiten und sein Glück verlassen.
Der Roman des amerikanischen Schriftstellers Lewis ist über 80 Jahre alt, blieb aber über Jahrzehnte unbeachtet. Dann wurde er ins Niederländische und Spanische übersetzt und nun liegt der Roman auch auf Deutsch vor. Das Alter merkt man dem Text nicht an. Die handelnden Personen mit ihren Problemen und Problemchen, mit ihrer unterschiedlichen Art, auf Ereignisse zu reagieren - teilweise mit einer gewissen Portion Egoismus, teilweise mit Distanz - könnten heute genauso gut existieren. Der Ozean mit seiner Unbarmherzigkeit, seinem Gleichmut, für den ein Menschenleben nur ein Wimpernschlag und nichts von großer Bedeutung ist, sowieso.
Auf nur rund 160 Seiten lässt Lewis Tragik und Komik gleichberechtigt nebeneinanderstehen, wirft die großen Fragen im kleinen auf, wird bei aller Dramatik nie hysterisch. Es passiert nicht viel, und doch alles.
Ungewöhnliches Werk
Beim ersten Erscheinen des Romans wurde ihm zu wenig Substanz zugeschrieben. Der Schriftsteller und Übersetzer Jochen Schimmang zitiert in seinem Nachwort die »Saturday Review« von damals: »In seiner Art ist das Buch ziemlich gut, aber es ist eine der Geschichten, die ein Meisterwerk hätten werden können, und das ist sie ganz und gar nicht.« Schimmang dagegen urteilt: »Der Roman ist eben das Meisterwerk, das er hätte werden können.« Eines ist sicher: Es ist ein ungewöhnliches Werk, sowohl was die Handlung angeht, als auch was die Rezeption betrifft.
Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord. Mare Verlag. 176 Seiten, 28 Euro in der Mare-Klassiker-Ausstattung mit Leineneinband. ISBN 978-3-86648-696-6
