Die Tänzerin und der Bauarbeiter

Megan Abbotts kunst- und spannungsvoller Ballettkrimi »Aus der Balance« gibt den Blick frei in die Abgründe hinter dem Alltag einer Ballettschule. Dabei wird es gruselig, ohne dass zu dick aufgetragen wird.
Das Dunkle, Korrupte, Skrupellose, Grausame und in dieser moralischen Finsternis die harten, gefährlichen Typen waren seit Anfang der 90er Kennzeichen der von Frank Nowatzki herausgegebenen Paperback-Reihe »Pulp Master« - Pulp bedeutet im amerikanischen Englischen »Schund«, der Name eine trotzige Ansage. Wer zu einem »Pulp Master«-Band griff, entschied sich für eine Männerwelt, für das Gegenteil von »Cosy Crime«, des Weichei-Genres Wohlfühl-Krimi. Garry Dishers Wyatt-Bände zum Beispiel erscheinen dort, alles andere als »Ocean’s Eleven«-Varianten, denn wenn Meisterdieb Wyatt, kalt von den Zehenspitzen bis zum Haarschopf, jemand in die Quere kommt, geht er auch über Leichen.
Erste Autorin in der Paperback-Reihe
Band 58 ist nun erstmals der einer Autorin, der 1971 geborenen US-Amerikanerin Megan Abbott. Und, noch viel ungewöhnlicher für die »Schund«-Reihe, ihr »The Turnout« (2021) spielt im weiblich dominierten Ballett-Milieu, in einer Welt der Spitzenschuhe, rosa Strumpfhosen und Tutus. Das Turnout ist die Auswärtsdrehung in der Hüfte, sie ist unbedingt notwendig für die Positionen des klassischen Balletts; für die deutsche Übersetzung wählte man den Titel »Aus der Balance«.
Ein »Schauerstück« nennt Thekla Dannenberg den Roman in ihrem Nachwort. Dass er trotz detaillierter Schilderungen des Ballettschul-Alltags in den USA ein Bestseller wurde, ist der sich langsam, freilich nie ins Übernatürlich-Gespenstische steigernden Gruselatmosphäre und der raffinierten Figurenzeichnung zuzuschreiben. Megan Abbott deutet meisterhaft an, sodass immer ein Zweifel bleibt, sie versteckt die Dinge zwischen den Zeilen und in mehrdeutigen Bildern. Kunstvoll drechselt sie die Handlungsstränge, kunstvoll ist die Sprache.
Die Schwestern Dara und Marie, die seit dem Unfalltod ihrer Eltern die Ballettschule Durant weiterführen, sind vom alten, strengen Lehrerinnenschlag. Wer keinen Schmerz aushält, wer sich nicht quält mit eisernem Willen, ist vor allem bei Dara falsch. Obwohl sie doch verheiratet ist mit Charlie, einst Vorzeigeschüler ihrer Mutter, der seinen schönen, marmorhaften Körper bereits als junger Mann ruiniert hat im Bemühen, es trotz Verletzungen besser und noch besser zu machen. Charlie führt nun die Geschäfte der Schule Durant.
Es ist Herbst - die Jahreszahl bleibt offen, auf dem Ballettschul-Schreibtisch klingelt ein Festnetztelefon, aber es gibt auch schon Handys - und die traditionellen »Nussknacker«-Aufführungen stehen an. Wer darf Klara tanzen, wer Drosselmeier, wer den Prinzen, welche kleinen, aufgeregten Mäuse müssen gedrillt werden. Es gibt Rivalität, Gemeinheit, ehrgeizige Eltern, die ihr Kind in der Hauptrolle sehen wollen. Dann brennt es im Studio, ein altes, marodes Haus, wie das, in dem Dara, Charlie, Marie wohnen, und obwohl der Brand nicht sehr schlimm, die Feuerwehr schnell da ist, kann der Schaden nicht bleiben. Sie brauchen das Studio gerade jetzt.
Auftritt Derek, Bauunternehmer mit wolligen Armen und ausladendem Bauch, der die drei zu einer größeren Renovierung überredet. Bald hallt »sein keuchendes Lachen« durch jeden Saal, hinterlassen seine Stiefel, »braun und fleckig wie eine gebackene Kartoffel« überall Dreck. Schlimmer: Bald gibt sich ihm Marie mit Leidenschaft hin, färbt sich für ihn die Haare »hot buttered blonde«, zeigt die Blutergüsse auf der Innenseite ihrer Schenkel fast mit Stolz, dreht die Beine ja auswärts, siehe oben. Dara, aus deren Sicht vor allem erzählt wird, kann sich nur wundern über Maries »Bedürfnis, herumkommandiert, dominiert zu werden - was für ein ›altes, angestaubtes Frauending‹.
Zahlreiche Spannungsfäden
Geschwisterliche, Durant-Familiengeheimnisse kommen nach und nach ans Licht, und »Familiengeheimnisse … sind die allerschlimmsten, nicht wahr?«, sagt Derek, von dem Dara längst überzeugt ist, dass sie ihn loswerden müssen.
Megan Abbott zieht viele Spannungsfäden, aber zieht sie so behutsam, dass man kaum merkt, wie man ihr in die Falle geht. Sie trägt dabei nicht dick auf, wie es der Balletthorror-Film »Black Swan« tat. Es reicht, dass die Gewissheit zerstört wird, dass weder Dara, noch Marie, noch Charlie jemals ausbricht aus dieser seltsamen, aber eingespielten Ménage à trois. »Sie waren zu dritt. Immer sie drei. Bis sich das änderte. Und ab da ging alles schief.«
Jedoch geht nichts schief für jene, die sich für diesen so ganz anderen Ballettroman entscheiden, der sofort nach Erscheinen Platz 1 der Krimi-Bestenliste erreichte.
Megan Abbott: Aus der Balance. A. d. Engl. v. Karen Gerwig u. Angelika Müller. Pulp Master, Berlin 2023. 410 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-946582-16-8