Konzertabend mit Wecker endete deutlich nach 23 Uhr
Pohlheim - »Glück ist flüchtig, kaum zu fassen. Es tut gut, sich sein zu lassen.« Ganz leise endete das letzte Stück eines über dreistündigen Konzertabends, in dem - nach dem Rezitieren von Fernando Pessoas zarter Beschreibung einer Alltagsszene in der Rua Nova do Almada zu Lissabon - ganz behutsam die erbauliche Schönheit des Schlenderns besungen wird.
Die beiden Musiker wissen, wie zutreffend die genannte Feststellung ist, verharren nach dem Ausklingen ihrer Instrumente gesenkten Kopfes - und ein hoch sensibles Publikum nimmt die Stimmung auf, lässt zwei, drei Sekunden der Stille verstreichen, eh es zum Schlussbeifall ansetzt für den Münchener Musiker und Poeten Konstantin Wecker und dessen »pianistisches alter ego« Jo Barnikel.
Es war nicht das einzige Mal an diesem Abend in der Sport- und Kulturhalle Garbenteich, dass zu Tränen rührende Lieder bei den Protagonisten eine geradezu seelenwärmende Verletzlichkeit erkennen ließen, die das breite Publikum zumindest bei diesem gewichtigen Hünen nicht unbedingt auf den ersten Blick erwartet. Etwa bei und nach »Für meinen Vater«, eine gesprochene Ode an das große Vorbild, den Opernsänger und Maler und Kriegsdienstverweigerer und Antifaschisten Alexander Wecker, die behutsam unterlegt ist mit Puccinis »Nessun Dorma«-Melodie.
Am fließenden Übergang vom Musettewalzer »Zigeuner sind gekommen« zum Wecker-Klassiker »Sag’ nein!« Oder bei dem hymnenartig vertonten Gedicht »Was keiner wagt, das sollt ihr wagen« des Frankfurter Priesters Lothar Zenetti.
Aber was erwartet das Publikum überhaupt von Wecker?
In Pohlheim viel. Binnen weniger Tage war im September das Gros der 650 Karten vergriffen für diese von Jutta Grein und Susann Balser-Hahn als »Kultur in Mittelhessen«-GbR zusammen mit gut 25 Helferinnen und Helfern auf die Beine gestellten Veranstaltung. Als Wecker und Barnikel nach gut zweieinhalb Stunden musikalisch noch einmal das Titellied »Leben im Leben« anstimmten, waren die Pohlheimer und deren Gäste längst eingeschworen: »Genug ist nicht genug« - das sollte auch für sie gelten.
Bemerkenswert, denn Tage zuvor beim Konzert in der Alten Oper zu Frankfurt hatten die Musiker nicht alle Zugabe-Register ziehen müssen. »Habt’s noch a bisserl Zeit? Oder geht eure U-Bahn?«, scherzte der Barde, nachdem er vom nicht enden wollenden Applaus zum ersten Male zurück auf die Bühne geholt worden war, damit er diese unterhaltsam-anregende Tour durch vier bewegende Kreativ-Jahrzehnte fortsetzen möge.
Anfangs hatte er ein paar Blüten aus den frühen Jahren auf seiner Liedertafel, besang die Zeiten, in denen er als in München getürmter Straßensänger in Rom den ersten Ruhm suchte, als ihm »die Maderln« vorkamen, als schauten sie prall wie Äpfel aus oder erwärmend wie der Sommer. In seinem alten Kaiser, einem ehedem auf Haile Selassie gemünzten Lied, sieht er nun sich selbst: Abschied des alten Mannes - von der Macht.
Überhaupt das Alter. Der 62-jährige Wecker kokettiert den ganzen Abend damit. Ja, räumt er ironisch ein, er lese nun auch die »Apotheken Umschau« - um dann darüber abzulästern, wie das Altern weithin verdrängt werde: Mit einer »prächtig auszuweidenden Kaufkraft« habe man es zu tun - »zu jung, um von der Jugend ernstgenommen zu werden, zu angepasst, um in Würde zu altern«.
Wecker zeichnet mit Worten Karikaturen (»Der dicke Papa«), bedient sich bei Robert Gernhardt (»Ein Vater spricht«) und Kurt Tucholsky, bei Erich Kästner und Georg Schramm. Und er ist natürlich auch in Garbenteich der politische Liedermacher. Fast scheint’s, als sei er nicht ganz unglücklich darüber, dass sein vor bald zehn Jahren geschriebenes »Wenn die Börsianer tanzen« so schnell und so heftig eine ganz neue Bedeutung erlangen sollte. Eher grenzwertig der »Gutti-Song«, eine Art mit einfacher Melodie zum Lied erhobenen Schmähschrift. Im Vergleich mit seinem übrigen Repertoire - nicht nur dem am Samstag gebotenen Auszug - ist dieses Werk nicht mehr als eine schwache Büttenrede.
Das hätte Wecker einfacher und intelligenter sagen können, mindestens so eloquent wie der von ihm kritisierteMinister: Dass er, der Liedermacher und »liebende Anarchist«, nämlich nichts von alle dem glaubt von dem, was die Politiker den Menschen mit dem Gerede von der »Verteidigung des Vaterlandes am Hindukusch« einreden wollen.
Aber so ist er nun mal, der Wecker! Ist er so? Ja. Keine Kompromisse. Erinnert sei da an den »Willy«: »Freiheit, das heißt: Keine Angst haben vor nichts und niemandem!« Das Bissige konnte indes nicht die Oberhand gewinnen: Bei »Leben im Leben« plädiert Wecker vor allem für die Liebe (mit zeitweise unverholenem Schwerpunkt auf die physische Sicht der Dinge): Mit den Schenkeln ausgeübte Gewalt ist so ziemlich die einzige, die er als Pazifist akzeptiert. Nicht nur, wenn der Sommer nicht mehr weit ist. Der Wecker - der Frauenversteher!
»Questa nuova realtá« singt er unten im Parkett, bevor er ein letztes Mal die Bühne erklimmt. Der Beifall gilt nicht nur dem »Zugpferd« der Veranstaltung, sondern auch dem »Co«, dem in der Tat kongenialen Jo Barnikel. Der ist für die Klangteppiche verantwortlich, für die Tiefe der Musik, fürs Filgrane, die Einwürfe von Melodiebögen. Genial hört sich all dies an, wenn zwei Männer auf drei Manualen zu vier Händen sich mit einer Leichtigkeit die imprivisatorischen Bälle zuwerfen, dass einem fast schwindlig wird. Köstlich in diesem Zusammenhang das Melodien-Mosaik, das sich von angedeuteten Weihnachtsliedern bis hin zu Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 1 erstreckt.
»Glück ist flüchtig...!« Mal sehen, wie lang die Erinnerung an diesen Abend hält, bevor sie sich womöglich auflöst. Nun ja, es gibt notfalls ein Gegenmittel: »Einfach wieder schlendern, über Wolken gehn/und im totgesagten Park am Flussufer stehn.« Es hätte schöner kaum sein können. No. Schmidt