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Die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums: »System Error«

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Immer mehr wirtschaftliches Wachstum – kann das funktionieren? Dies hinterfragt kritisch die Doku »System Error«. Unser Filmkritiker Sascha Jouini hat sie gesehen.

Markus Kerber, ehemaliger Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, macht unmissverständlich klar: Wachstum sei ein Naturgesetz; selbst wenn Menschen auf neue Möbel oder Autos verzichten würden, führten deren Grundbedürfnisse zu wirtschaftlicher Expansion. Auf ähnliche Weise äußern sich viele Protagonisten in dieser Dokumentation. Regisseur Florian Opitz versteht es indes, herausfordernde Fragen zu stellen. So muss Eric Chen, Airbus-Präsident in China, der von der prosperierenden Entwicklung des Landes schwärmt, einräumen, dass es angesichts permanenter Staus zu viele Autos in Peking gebe. Fortwährendes Wachstum grundsätzlich in Frage stellt Wirtschaftswissenschaftler Tim Jackson – in armen Ländern, wo Menschen kaum genug zu essen hätten, sei dies noch sinnvoll, in den reichen Staaten vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen indes bedenklich.

Der Film beleuchtet kritisch die Entwicklung des kapitalistischen Systems seit dem Zweiten Weltkrieg. Dabei erweisen sich eingeblendete Zitate von Karl Marx als weitsichtige Prophezeiungen. Dass Wachstum Grenzen haben kann, verdeutlichen die Ölkrisen in den 1970er Jahren und der Börsencrash ab 2007. Bemerkenswerterweise blenden viele Wirtschaftsstrategen Risiken weitgehend aus. So behauptet Andreas Gruber, Chefinvestor der Allianz, Finanzmärkte hätten selbstheilende Kräfte, zudem zeige sich, dass das Ökosystem stetiges Wachstum aushalte. Irrelevant scheinen ethische Aspekte für Norbert Räth, leitender Angestellter beim Statistischen Bundesamt, der glaubt, im Bruttoinlandsprodukt spiegele sich der Wohlstand wider.

Besonders erschreckend offenbaren sich die Folgen blinden Fortschrittswahns im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso. Regenwälder fallen hier der Land- und Viehwirtschaft zum Opfer. Sojabauer Argino Bedin sowie Hühner- und Schweineproduzent Carlos Capeletti sehen nur positive Aspekte wie die Arbeitsplätze, die sie schaffen, und interessieren sich nicht für Umweltprobleme, sondern für die Steigerung der Produktivität.

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Mensch wird überflüssig

Heikel scheint, dass sich der Mensch durch Rationalisierung selbst überflüssig machen und die Kontrolle verlieren kann. So übernehmen Roboter nicht nur in der Industrie schwere Arbeit, vielmehr läuft selbst der Hochfrequenzhandel auf dem Finanzmarkt automatisiert ab. Bezeichnend daran: Ein Audi-Manager ist sicher, dass künftig in anderen Bereichen neue Tätigkeitsfelder entstehen, welche dies genau sein werden, kann er allerdings nicht sagen.

Kapitalismus als Glaubensfrage

Die Dokumentation führt eindringlich vor Augen, in welch hohem Maße kapitalistisches Wirtschaften zur Glaubensfrage wird. Dabei könnten negative Auswirkungen jeden treffen. Opitz gelingt es, anschaulich Zusammenhänge zu erklären, er beschränkt sich indes auf Symptome und Risiken, zeigt kaum Alternativen auf. Gleichwohl bietet der Film großen Erkenntnisgewinn.

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