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Heuchelheim: Selbst in »Game of Thrones« sind die Stoffe von Anita Pavani zu sehen

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Von: Christina Jung

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Anita Pavani vertreibt in Heuchelheim Stoffe aus Naturfasern. Ihre Meterware ist weit über die Region hinaus begehrt. Auch Hollywood klingelt regelmäßig bei der Geschäftsfrau an.

Im Gewerbepark Rinn und Cloos reiht sich Fabrikgebäude an Fabrikgebäude. Dort, wo einst die Zentrale der größten Zigarrenproduktion Deutschlands ansässig war, sind heute ganz unterschiedliche Firmen zu Hause. Eine davon ist die von Anita Pavani.

Durch eine schwere Metalltür gelangt man vom Parkplatz aus in das historische Gebäude, in dessen erstem Stock sich auf rund 700 Quadratmetern die Welt der 69-Jährigen eröffnet: Stoffe, wohin das Auge reicht. Wolle, Leinen, Seide und Baumwolle gibt es hier in vielen unterschiedlichen Farben, Mustern und Webstrukturen. Rund 1300 verschiedene Modelle. Gemeinsam ist ihnen allen eines: Sie bestehen aus Naturfasern.

Seit 25 Jahren hat Pavani einen Laden in Heuchelheim

Ihre Leidenschaft für Stoffe entdeckte sie bereits in Kindertagen. »Meine Oma war Schneiderin, und ich habe immer mit den Resten gespielt, die ihr herunterfielen«, erinnert sich Pavani. Als 14-Jährige begann die gebürtige Stuttgarterin selbst zu nähen, und vor 40 Jahren stieg sie ins Stoffgeschäft ein. Anfangs vertrieb sie die Meterware in ihrem damaligen Zuhause im Vogelsberg, später vom Leihgesterner Neuhof aus, wo sie viele Jahre mit ihrer Familie lebte.

Doch irgendwann platzte ihr Haus aus allen Nähten. »Keller, Dachboden, Wohnwagen – alles war voll mit Stoffen«, erinnert sich die Unternehmerin. Da kamen vor 25 Jahren die freien Räume in Heuchelheim gerade recht.

Unser Stoff hat bei der Verfilmung von Patrick Süskinds "Parfum" quasi die textile Hauptrolle gespielt

Anita Pavani

Heute kauft hier Lieschen Müller für den Eigenbedarf ebenso ein wie bekannte Kostümbildnerinnen für ihre Stars. Esther Walz beispielsweise oder Barbara Baum. Kein Wunder, dass Pavanis Naturfasern am Broadway oder in bekannten internationalen Film- und Fernsehproduktionen zu sehen sind. »Die Buddenbrooks«, »Game of Thrones« und »Outlander« gehören dazu, das »Geisterhaus«, »Harry Potter« oder das Musical »Les Miserables« ebenfalls.

In Bernd Eichingers Verfilmung von Patrick Süskinds »Parfum« tauchte Käse-Leinen aus Heuchelheim immer wieder an ganz prominenter Stelle auf. »Unser Stoff hat quasi die textile Hauptrolle gespielt«, sagt Pavani.

Häuschen im Vogelsberg ohne Strom und fließendes Wasser

Dass sich ihr Geschäft so entwickeln würde, hätte sie anfangs nicht gedacht, zumal der Entschluss, Stoffe zu verkaufen vor 40 Jahren mehr aus einer Lebenseinstellung und nicht aus einem Berufswunsch heraus resultierte. »Ich hatte verschiedene Studiengänge ausprobiert, aber in keinem wurde gelehrt, was ich wissen wollte«, erzählt Pavani.

Schließlich landete sie mit ihrem Mann im Vogelsberg, bezog ein kleines Häuschen auf einem Berg. Ohne fließendes Wasser und ohne Strom. Ihr Gemüse baute sie selbst an. »Wir lebten ober-alternativ«, so Pavani.

Und genau deshalb sollten ihre Kinder auch keine Kleidung aus Kunstfasern tragen. In den 1970ern gar nicht so einfach. »Außer Nylon, Trevira oder Dralon war auf dem Textilmarkt kaum etwas zu bekommen«, berichtet sie. In einer kleinen Weberei in Herbstein wurde die junge Mutter dennoch fündig. Hier lagerten noch Bestände aus Vorkriegszeiten ein. Die kaufte Pavani nicht nur für den eigenen Bedarf, sondern auch für den Weiterverkauf. »Irgendwann hatten wir den Bestand geplündert, und es wurden neue Stoffe produziert.« Nach ihren Wünschen.

Mehrere hundert Kilometer Stoff setzt Pavani jährlich um

Auch zu anderen Webereien nahm sie Verbindung auf, besuchte Fachmessen wie die Interstoff in Frankfurt, knüpfte internationale Kontakte. Sie schaltete Anzeigen in bekannten Frauenzeitschriften wie Brigitte oder Burda. Und so wuchs ihr Versandgeschäft.

Heute setzt sie jährlich jede Menge laufender Meter Stoff um. Wie viele genau, das weiß sie nicht. »Mehrere hundert Kilometer werden es schon sein«, schätzt Pavani. Tendenz steigend, denn nachdem in der Vergangenheit ein großer Teil der textilen Kulturlandschaft in Europa vom Tsunami asiatischer Billigproduktionen weggeschwemmt wurde, wächst laut Pavani heute wieder ein Bewusstsein für »unsere zweite Haut«.

Verkauft wird die Ware überwiegend über das World Wide Web. Ende der 1990er hatte Pavani ihre erste Internetseite, seit 2001 verfügt sie über einen Stoffe-Shop im Netz. Damals einer der ersten in Deutschland.

Sohn und Tochter sollen den Betrieb übernehmen

Eine Ausbildung im Textilbereich hat die Geschäftsfrau nie gemacht, weiß heute aber vermutlich ebenso viel über Stoffe wie ein Fachmann. »Learning by doing« lautete ihre Devise. Von einer Zufallsbekanntschaft – dem ehemaligen Chefeinkäufer einer großen deutschen Stofffirma – lernte sie die ersten Grundbegriffe, später stieß sie auf das Musterhandbuch der Webwarenkunde von 1952, in dem sie immer wieder nachlas. »Außerdem habe ich jedem dumme Fragen gestellt, der zum Thema Stoff etwas wusste«, sagt Pavani.

Weil sie sich langsam aus dem Geschäft zurückziehen will, hat die Fast-Siebzigerin bereits begonnen, ihr Wissen weiterzugeben. Sohn und Tochter arbeiten im Betrieb mit und sollen irgendwann ganz übernehmen. Damit die Kostüme für die Traumfabrik auch in Zukunft gesichert sind.

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