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Zeitaufwendig - aber erstrebenswert

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Von: Rüdiger Geis

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© Rüdiger Geis

Heute bleibt das Auto stehen. Die Fahrt zum Arbeitsplatz wird diesmal per Rad und Zug bewältigt. Rund 38 Kilometer umweltfreundlich nach Gießen. Doch vor den Erfolg haben die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt. In diesem Fall allerdings die schon oft kritisierte Unzuverlässigkeit der Bahn.

Meine Alternative zur Autofahrt an den Arbeitsplatz beginnt mit einer Enttäuschung, die wie eine Bestätigung gängiger Vorurteile wirkt: Zug fällt aus. Technische Probleme. Geplant war eigentlich an diesem Dienstag, mit dem Rad zum Bahnhof zu fahren, um 7.44 Uhr die Regionalbahn nach Gießen zu nehmen, dort um 8.14 Uhr auszusteigen und per Bike die Redaktion zu erreichen. Überpünktlich, denn Dienstbeginn ist heute um 9 Uhr.

Daraus wird nun nichts. Ja, die Bahn, man muss sehr viel Verständnis für das Unternehmen aufbringen - was Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit betrifft. Die Alternative heißt jetzt: Um 8.08 Uhr erst mal in die entgegengesetzte Richtung fahren, in Herborn umsteigen und um 8.22 Uhr mit dem Regionalexpress nach Gießen fahren. Immerhin, die beiden Züge - Regionalbahn der Deutschen Bahn (DB) und Regionalexpress der Hessischen Landesbahn (HLB) - kommen pünktlich - eine Minute Verspätung liegen definitiv in der Toleranz.

Bequemlichkeit

Bahn: Möglichkeiten zur Fahrradmitnahme bieten die Züge schon. Aber gerade in den Stoßzeiten wird es oft sehr eng, auch wenn man noch weit von Tokioter U-Bahn-Verhältnissen entfernt ist. Ich muss stehen und wie ein Seemann bei Windstärke vier durch Gewichtsverlagerung die Balance halten. Das Rad macht es nicht einfacher, rollt mal hierhin, mal dahin. Da muss man aufpassen, keinen Mitreisenden »anzufahren«. An Lesen oder Schreiben ist nicht zu denken. Somit kein Unterschied zum Pkw. Vom Gießener Bahnhof aus bin ich innerhalb weniger Minuten in der Marburger Straße 20. Zu Hause gestartet um 7.52 Uhr, am Redaktionsschreibtisch um 9.02 Uhr (inkl. kurzem Stopp beim Bäcker); Fahrzeit: eine Stunde und zehn Minuten.

Auto: Start um 8.23 Uhr: Von zu Hause aus brauche ich inklusive Stopp beim Bäcker sieben Minuten bis zur A45-Auffahrt Herborn-Süd. Bei Tempo 130 sind es zwölf weitere Minuten bis zur Abfahrt Wetzlar-Ost und auf die B49. Dann geht es über den Gießener Ring zur Rodheimer Straße und über die Nordanlage zur (schwierigen) Parkplatzsuche im Umfeld der Marburger Straße. Ankunft am Schreibtisch: 9 Uhr; 37 Minuten Fahrt. Alles unter der Voraussetzung, dass es keine Staus gibt, mit denen man jedoch aufgrund der aktuellen Baustellenhäufigkeit und damit verbundener Unfälle ständig rechnen muss. Für das Ausweichen auf die Landesstraßen muss ich mindestens eine Viertelstunde draufrechnen. Bei Staus: ungewisser Mehraufwand.

Kostenvergleich

Bahn: Eine Wochenkarte kostet beim Rhein-Main-Verkehrsverbund für die Strecke Sinn-Gießen 54,70 Euro, der Monatstarif liegt bei 185,90 Euro und das Einzelticket bei 8,60 Euro. Für die Hin- und Rückfahrt werden dann also 17,20 Euro fällig. Etwas günstiger ist das Tagesticket mit 16,75 Euro.

Auto: Mein Hyundai i20 kostet nach Ermittlungen von Auto-Bild rund 35 Cent pro Kilometer, wenn man alle Kosten (Kaufpreis, Inspektionen, Reparaturen, Versicherung usw.) einrechnet. Bei einer Tagesleistung von ca. 80 Kilometern sind das 28 Euro, bei 22 Arbeitstagen im Monat 616 Euro. Rechnet man nur den Sprit, kommt man pro Fahrt auf rund 7,83 Euro (bei einem Benzinpreis von 1,45 Euro/Liter und einem Verbrauch von 5,4 Litern auf 100 Kilometer), im Monat als etwa 172 Euro. Somit ist das Auto nur im Spritverbrauch nicht wirklich günstiger, in der Gesamtrechnung jedoch deutlich teurer als die Bahn.

Fazit

Zeitaufwand: Fahrplanmäßig ist die Kombination Zug/Fahrrad um mindestens eine halbe Stunde zeitaufwendiger gegenüber dem Pkw. Aber die Unsicherheit, ob ein Zug ausfällt oder verspätet kommt, spielt immer mit. Andererseits auch das Problem, in einen Stau zu fahren, der noch nicht im halbstündigen Verkehrsinfo der Radiosender angekommen ist. Auf der A45 ist das leider häufig der Fall.

Entspannungsfaktor: Der hängt davon ab, ob man einen Sitzplatz im Zug ergattern kann oder mit dem Rad zwischen den Reihen balancieren muss. Trotzdem ist die Bahnfahrt deutlich entspannter gegenüber der Pkw-Fahrt. Im Auto ist der Sitzplatz zwar garantiert, ein erhöhter Adrenalinspiegel allerdings auch. Dafür sorgen schon überraschend ausscherende Lkw oder hoch motorisierte SUV-Panzer, die Tempo 130 für unter ihrer Würde halten und einem netterweise ein bisschen anschieben möchten.

Umweltverträglichkeit: Ganz klares Minus für den Pkw.

Kosten: Der schwierigste Entscheidungsfaktor. Unter Einbeziehung aller Kostenfaktoren ist das Auto definitiv teurer als die Bahn. Dafür aber flexibler und weniger zeitintensiv bei der Fahrzeit. Rechnet man nur die Benzinkosten - nach dem Motto: Das Auto hab ich ja sowieseo - kommt der Pkw knapp besser weg.

Unterm Strich: Für mich ist die Pendlerfahrt per Zug/Rad nur bedingt tauglich, wenngleich erstrebenswert. Für Spätdienste, die schon mal bis Mitternacht gehen können, ist es definitiv keine Alternative. Für den normalen Dienstbeginn um 9 Uhr akzeptabel, auch wenn man länger unterwegs ist. Voraussetzung ist aber eine höhere Verlässlichkeit der Züge, an der es bisher aber leider allzu oft hapert. Ich werde trotzdem versuchen, öfter das Auto in der Garage zu lassen und den Zug zu nutzen. Spätdientstauglich ist diese Lösung allerdings nicht: Wenn der letzte Zug ausfällt, hänge ich nachts in Gießen fest.

Meine Rückfahrt habe ich beim Feldversuch übrigens erst in Dutenhofen gestartet. Eine kleine Radtour in der Abendsonne durch die Lahnaue wirkt eindeutig stressabbauend - und macht die Einzelfahrt für Sparfüchse um 3,55 Euro günstiger. Mein Wunsch wäre eine Zehner- oder 20er-Karte wie im Schwimmbad, weil das Korsett des Wochen- oder Monatstickets bei nur ein bis zwei Fahrten pro Woche für mich keine Lösung wäre.

Mit Rad und Bahn zur Arbeit - ein Selbstversuch: So leer wie auf dem Foto oben rechts ist es selten. Zu den Hauptpendlerzeiten morgens und abends sind einige Züge voll. Mit dem Bike dann noch einen Sitzplatz zu ergattern, ist oft schwierig. (Fotos: Rüdiger Geis)

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