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Viel Arbeit für den Schwärmer

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Von: Norbert Schmidt

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Wenn Ulrich Mattner mit der Kamera durch »sein« Bahnhofsviertel streift, schenken ihm die Menschen ein Lächeln. Der neue Vorsitzende des Gewerbevereins ist »eine starke Stimme« des Problemquartiers.

Ein grenzenlos erscheinender Optimismus ist Ulrich Mattners DNA ebenso eigen wie der Hang zur Euphorie, mit der er nach wie vor von seinem Lebensumfeld schwärmt, dem Frankfurter Bahnhofsviertel. Worum andere gern einen großen Bogen machen, wo sie schon gar nicht wohnen wollen, da ist der 59-jährige Journalist, Fotograf und Buchautor seit rund zehn Jahren zu Hause. Aber nicht einfach nur so: Er ist Teil des Geschehens. Und nun stellt er sich ehrenamtlich der Verantwortung. Seit wenigen Wochen fungiert er als Vorsitzender des Gewerbevereins, und als solcher will er »etwas bewegen. Denn wir wohnen und arbeiten im vielleicht spannendsten Teil der Stadt. Aber derzeit zeichnen zu viele schlechte Nachrichten von hier ein zunehmend einseitiges und unschönes Bild«, sagte der Schaffer jüngst im Gespräch mit dieser Zeitung. Daher brauche das Viertel »eine starke positive Stimme«; eine, die Klartext spricht, die offen und ohne politisches Kalkül Meinung kundtut.

Forderung »Frankfurter Weg 2.0«

Damit er nicht zum einsamen Rufer in der Wüste wird, zum Don Quijote aus der Münchener Straße, hat er gleich nach seiner Wahl begonnen, zunächst den eigenen Verein nach vorn zu bringen: Dem Vorstand gelang es, die Mitgliedszahl auf über 50 zu verdoppeln. 100 sollen es bis Ende 2017 sein, womit man der größte Gewerbeverein in der Stadt wäre. Dabei schielt Mattner keineswegs allein klassische Klientel, also Einzelhändler und Gastronomen; auch Freischaffende, Künstler und Designer, Szene-Aktivisten und Immobilienbesitzer sollen sich anschließen. Selbst das »Rotlicht« sei nicht ausgeschlossen, wie er betonte: »Die gehören doch dazu!«

War Multiplikator Mattner bislang – als Buchautor und Journalist, als Werbetexter und Stadterklärer – eher ein feuilletonistisch agierender Fürsprecher des Quartiers, so kommt nun eine sozial- und ordnungspolitische Komponente dazu. Eine seiner Thesen, mit der er sich auf dem Kiez nicht nur Freunde schafft: »Wir brauchen mehr Licht, mehr Polizei, mehr Kameras!« So ließe sich die massiv ausufernde, von Albanern und Meghrebinern dominierte Dealerei eindämmen. Und um das Drogenproblem sowie – mehr noch – das Leid der Schwerstabhängigen zu lindern, müsse das frühere Erfolgsmodell »Frankfurter Weg« eine Fortschreibung erfahren, gar eine echte Neuauflage. Schlagwort hier: »Frankfurter Weg 2.0«.

Harte Drogen kontrolliert abgeben

Frankfurter Weg? Den hatte die Stadt vor rund 25 Jahren eingeschlagen angesichts einer permanenten Zuspitzung des Drogenproblems, als Heroin-Junkies die Taunusanlage bevölkerten und jährlich um die 150 Drogentote zu beklagen waren. Jetzt sind es um die 30. Einer der Programm-Eckpfleiler war die Einrichtung sogenannter Druckräume. »Ein erster Schritt zur Entkriminalisierung der Drogenkranken«, weiß Mattner Aber man dürfe »nicht auf halbem Weg stehenbleiben«, betonte Mattner. »Heroin und Crack illegal auf der Straße zu kaufen und dann legal in einem Raum zu konsumieren, schränkt das Dealen ebenso wenig ein wie die vorgelagerte Beschaffungskriminalität.« Nein, es gehe um »eine revolutionäre Lösung«, um gerade den 150 bis 300 bekannten Schwerstabhängigen beizustehen: Kontrollierte Abgabe von Heroin und Crack an diese Klientel, und zwar hier im Viertel! Der Gewerbeverein plädiere sogar für eine »geschlossene Drogenszene«, einzurichten am Platz der Republik im früheren Polizeipräsidium. »Darüber ist nachzudenken, auch wenn es nicht zum Nulltarif zu haben und wenn es politisch unbequem sein wird.«

Hinsichtlich der Drogenproblematik will der mit neuem Selbstbewusstsein auftretende Gewerbeverein den Blick zudem auf die Brennpunkte gelenkt sehen: Wiesenhüttenplatz (neben dem Hotel »Le Méridien«), das Areal Niddastraße/Bahnhof-Nordseite, die B-Ebene des Hauptbahnhofs und Taunusstraße. Hier brauche es dauerhaft mehr Streifen speziell geschulter Polizisten. Zudem sei die dreispurig befahrbare Taunusstraße zu verkehrsberuhigen; zugunsten einer Umstrukturierung à la Kaiserstraße.

Überhaupt »die Straße«, der öffentliche Raum: Über den Wochenmarkt in der Kaiserstraße, dienstags und donnerstags, übers öffentliche Fastenbrechen am Ende des Ramadan (mit vergangenes Jahr rund 900 Besuchern) und über die Bahnhofsviertelnacht hinaus will der Gewerbeverein weitere Akzente setzen. Drei Straßenfeste sind geplant, zudem Floh- und Adventsmärkte, Aktionen wie »Gedeckter Tisch« und anderes mehr. Es gehe darum, den kleineren Läden zusätzliche Umsatzquellen zu eröffnen in einer Zeit der Verdrängung. »Was zum relativen Charme des lang vernachlässigten Quartiers beigetragen hat, muss auf einmal verschwinden«, merkte Viertel-Sprachrohr Mattner an. »Der Sari-Laden um die Ecke, der Gewürzhändler in der Kaiserpassage, der äthiopische Friseur.

Das gilt auch für den bei uns einzigen Discounter, den sogenannten ›Ghetto-Netto‹ in der Taunusstraße. Statt dessen gibt es jetzt einen ›Rewe-to-go‹ mit Premium-Sortiment.« Die Gentrifizierung schreite auch in der Kaiserpassage voran: Ein moderner Lebensmittelmarkt und die Erweiterung eines Hotels verdrängten dort etwa 15 Läden.

Die Mischung macht’s

Dabei wissen Mattner und dessen Vorstand: Im steten Wandel liegt eine der Chancen ihres Viertels, das einmal für 11 000 Einwohner gebaut worden war nach Plänen der um 1900 namhaftesten Architekten. In den Augen des in diesem Moment wieder zum Schwärmerischen neigenden Vorsitzenden ist das nur 500 000 Quadratmeter große Bahnhofsviertel »ein in Europa einzigartiges Milieu der Kontraste. Wo sonst gibt es Banken, Bordelle, Bars und Basare auf engstem Raum?« Auch wenn dies nicht viel heißen müsse: Übers Nachtleben dort mit nahezu 20 angesagten Restaurants, Bars und Clubs hätten selbst »New York Times« und »Guardian« großen Reportagen veröffentlicht. Und dauernd kämen neue »Szeneläden« hinzu.

Die aber brauchen ein solventes Publikum, das sich nicht wegen »Europas größter Drogenszene und Deutschlands längster Rotlichtmeile« (Mattner) auf dem teurer werdenden Kiez niederlässt. Wie im richtigen Leben gilt: Die Mischung macht’s!

Foto: Mattner

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