Die neue Lust am Demonstrieren

Für seine Meinung auf die Straße zu gehen, ist wieder »in«. Selten zuvor hat es in Hessens Großstädten so viele Kundgebungen gegeben wie zuletzt. Die neue Lust am Demonstrieren hat aber auch Schattenseiten.
Für Klimaschutz, gegen rechts, für rechts, für Europa, gegen Krieg: In Hessens Großstädten wird so oft demonstriert wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Einige Kommunen rechnen mit einem Rekord an Demos, Kundgebungen und Mahnwachen. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder sieht das positiv: »Diese Entwicklung zeigt, dass wir eine aktive Gesellschaft sind, in der Partizipation nicht nur über Wahlen läuft, sondern auch über öffentlich artikulierten Protest«, sagt er. Gleichzeitig steigt aber die Belastung für Behörden und Polizei.
Seit Jahren registrieren große Städte in Hessen immer mehr Anmeldungen von Versammlungen auf Straßen und Plätzen. Spitzenreiter ist Frankfurt . Innerhalb von 20 Jahren hat sich die Zahl von 260 auf zuletzt 1813 vervielfacht. 1741 davon fanden statt. Laut Ordnungsamt wird es am Jahresende voraussichtlich einen neuen Höchstwert geben. Ein »Klassiker« der Demonstrationen ist gewissermaßen die Montagsdemo der Fluglärmgegner, die gestern zum 300. Mal am Flughafen veranstaltet wurde.
Deutlich weniger Demonstrationen, aber ähnliche Steigerungen meldet Kassel . In Nordhessen gab es Ende der 1990er Jahre durchschnittlich 30 bis 40 Versammlungen, heute sind es über 180. In Gießen hat sich die Zahl der angemeldeten Kundgebungen und Demonstrationen innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt: von 90 im Jahr 2017 auf bisher 203 im laufenden Jahr. Höchstwerte erwartet man auch in Darmstadt (bisher 178) und Wiesbaden (138).
Die Motive der Demo-Anmelder sind oft ähnlich. »In Darmstadt gibt es einen sehr aktiven kurdischen Verein, der regelmäßig Kundgebungen anmeldet«, sagte ein Stadtsprecher. Weitere große Gruppen stellten die Fahrradaktivisten, Tierschützer und Veganer, die Pro-Europa-Bewegung »Puls of Europe« und die Klimaschutzbewegung »Fridays for Future«. In Wiesbaden treiben vor allem die Themen Tierschutz und Massentierhaltung, Klimawandel und Klimaschutz, Tierrechte und Veganismus Menschen auf die Straße.
Für den Kasseler Politikwissenschaftler Schroeder hat die Zunahme mehrere Gründe: »Da kommen zwei Gruppen zusammen: Einerseits die seit 68 im Protest geübten Generationen mit einer starken Zuneigung zu unkonventionellen Formen der Partizipation.« Sie prägten die Demos gegen rechts, aber auch für Klima, Europa und Multikulturalismus. »Andererseits haben wir die junge Generation der ›Fridays for Future‹, die viele schon abgeschrieben haben und sich nun ins Getümmel der Demokratie stürzt.«
Neu sei, dass sich diese Generationen nicht konfrontativ gegenüberstünden, sondern sich positiv aufeinander bezögen. »Das haben wir in dieser Form in der jüngeren deutschen Geschichte noch nicht gehabt. Statt einer Konfrontation der Generationen erleben wir gerade eine Kooperation«, sagt der Professor.
Gleichzeitig befeuert die unsichere Weltlage den Drang zum Demonstrieren: »Wir haben eine problematische Kumulierung von politischen und sozialen Konfliktlagen, die alle gleichzeitig die öffentliche Arena prägen: multiethnische Konflikte, soziale Fragen, Klimakrise, Verkehrsfragen, Europa, gegen rechts«, sagt Schroeder. Unter dem Strich sei es aber positiv, dass Protest zum Normalzustand werde: »Dadurch kann die Demokratie vitaler werden.«
Für den Staat steigt aber der Aufwand, Sicherheit zu gewährleisten. »Auch die Zahl von Einsätzen bei Demonstrationen und Kundgebungen vor Ort hat sich dadurch erhöht«, sagt Ralf Wagner vom Wiesbadener Ordnungsamt. Es müssten auch oft mehr Auflagen erteilt werden. Wie viel die Versammlungsfreiheit Hessens Steuerzahler pro Jahr auf diesem Weg kostet, ist unklar.