»Natürlich sind wir noch zu retten«

Prof. Susanne Herold ist Lungenforscherin an der Uniklinik Gießen. Sie berät auch die Bundesregierung in Forschungsfragen rund um die Corona-Pandemie. Im Interview ordnet sie die aktuelle Situation ein und erklärt, warum es jetzt auf jeden Einzelnen ankommt.
Frau Herold, wenn der Umgang mit Corona ein Marathonlauf ist: Wie viele der 42 Kilometer sind wir bisher gelaufen?
Susanne Herold: (lacht) Irgendwo zwischen Kilometer 20 und 25. Wir haben noch die Wintersaison vor uns. Das Virus wird uns noch bis in den Frühling hinein beschäftigen. Wir können davon ausgehen, dass wir zwischen Frühjahr und Sommer relativ wahrscheinlich einen Impfstoff zur Verfügung haben, aber dann natürlich nicht alle Masken fallen lassen können. Zunächst werden spezielle Risikogruppen geimpft, dann Menschen, die exponiert sind, wie zum Beispiel Krankenhauspersonal. Wir werden also noch eine ganze Weile mit Hygieneregeln leben müssen. Aber zu hoffen bleibt, dass wir im kommenden Sommer nicht mehr so strenge Regeln haben werden, wie sie aktuell auch wieder in Hessen in verschärfter Form angewendet werden.
Die Zahlen steigen wieder.
Wir hatten bereits im Sommer das Problem, dass viele Infektionen aus dem Urlaub mitgebracht wurden. Auch hielten sich in dieser Zeit weniger Menschen an die AHA-Regeln. Jetzt kommt die kalte Jahreszeit dazu, wir sind öfter und mit mehreren Menschen in geschlossenen Räumen. Wenn wir nicht aufpassen, wird das zu einem exponentiellen Ansteigen der Infektion führen.
Reichen Sperrstunden und Masken tragen aus, um den Anstieg zu stoppen?
Viel mehr können wir nicht machen. Sperrstunden zum Beispiel sind wichtige Maßnahmen, wirken aber nur flankierend. Jeder Einzelne ist im täglichen Leben gefragt, und das kann man mit Gesetzen gar nicht schaffen. Wir müssen überlegen, wo wir es verhindern können, mit vielen Menschen zusammenzukommen, wo Übertragungen stattfinden, und uns und andere durch entsprechendes Verhalten aktiv schützen. Das wird signifikant dazu beitragen, die Ausbreitung zu verlangsamen. Wir haben ja im Frühjahr gesehen, dass Masken tragen, Hände waschen und Abstand halten extrem helfen.
Kanzleramtsminister Helge Braun sagte jetzt, die Leute müssen mehr machen, als die Politik verordnet.
Absolut. Wir wissen alle, wie sich das Virus überträgt. Insofern liegt es tatsächlich an jedem Einzelnen. Es wird sich zeigen, wie solidarisch unsere Gesellschaft funktioniert.
Mittlerweile sind es vor allem Menschen ab 20 Jahren, die sich mit dem Coronavirus infizieren.
Wer jung ist, hat andere Dinge im Kopf. Das kann man ein bisschen verstehen. Deshalb darf man aber nicht müde werden, diese Generation zu erreichen, und möglichst aus der klinischen Erfahrung heraus zu berichten: Es gibt wirklich Patienten, die durch das Coronavirus sehr krank geworden sind. Darunter sind nicht nur sehr alte und kranke Menschen. Die Risikogruppe beginnt ab 60. Ich habe gerade eine 63-jährige Patientin, die immer gesund war und das erste Mal mit Covid-19 ernsthaft krank ist. Sie wird auf der Intensivstation beatmet.
Weiß man mehr über bestimmte Risikofaktoren?
Im Prinzip ist das noch nicht geklärt. Es gibt erste Daten zu verschiedenen genetischen Faktoren, die schwere Verläufe begünstigen, ähnlich wie bei der Virusgrippe. Die Wissenschaft erforscht intensiv, warum die Erkrankung mit dem SARS-CoV-2-Virus bei manchen Menschen so schwer verläuft und bei vielen anderen nicht.
Kennen Sie das Virus gut?
Mittlerweile sehr gut. Man weiß, Viren mutieren ständig, vor allem die, die sich über die Luft übertragen. Aber vergleichsweise ist das neue Coronavirus ziemlich stabil, und es löst dieselbe Krankheit aus wie im März oder April. Es gibt derzeit keine beschriebenen Mutationen, bei denen man Angst haben müsste, dass die Antikörper bei einem Menschen, der die Krankheit einmal durchgemacht hat, bei einer neuen Infektion nicht mehr ausreichend greifen.
Offen ist die Frage, wie lange ein bereits Erkrankter immun bleibt.
Wie lange die Immunität anhält, können wir in der Tat noch nicht sagen. Es gibt immer mal wieder Veröffentlichungen, zum Beispiel über einen Patienten aus Hongkong, der zweimal infiziert wurde. Das sind aber Einzelfälle. Wir gehen davon aus, dass derjenige, der eine Infektion durchgemacht hat, zunächst einmal immun ist. Sonst würden wir nicht so sehr auf Impfungen setzen. Ob man aber jetzt zwei, fünf oder zehn Jahre immun ist, wissen wir noch nicht. Wir kennen vier andere Coronaviren, die saisonal auftreten. Es gibt aktuell eine Studie über Menschen, die vor Kurzem eine Infektion mit einem dieser anderen Coronaviren durchgemacht haben. Sie haben einen besseren Immunschutz gegen das SARS-CoV-2-Virus. Das könnte vielleicht mit eine Rolle dabei spielen, ob man schwerer oder weniger schwer erkrankt. Aber das ist noch spekulativ. Doch es zeigt auch, dass Coronaviren eine Immunantwort geben können, die Menschen schützt.
Diskutiert wird auch, ob Kinder infektiös sind.
Es sieht danach aus, dass kleine Kinder in Kitas nicht unbedingt größere Überträger oder eine Quelle für große Ausbrüche sind. Bei kleinen Kindern verläuft die Erkrankung oft mit ganz wenigen Symptomen. Warum das so ist, hat man noch nicht herausgefunden. Wahrscheinlich geben die Kinder weniger Virus frei, wenn sie nicht so krank werden. Bei der Virusgrippe ist das anders, hier tragen Kinder stark zur Verbreitung bei.
Es gibt Menschen, die glauben, Corona sei nicht schlimmer als eine Grippe.
Wer nicht gegen die Grippe geimpft ist, ist dennoch sehr wahrscheinlich irgendwann in seinem Leben mit Grippeviren in Kontakt gekommen. So gibt es einen Immunschutz, der vielleicht nicht vollständig, aber vor schwereren Verläufen schützt. Das Coronavirus hingegen trifft auf eine auf den SARS-CoV-2 nicht immunisierte, also komplett immunologisch naive Bevölkerung. Jeder, der das Virus hat, hat es zum ersten Mal. Das Immunsystem muss sich erst mal damit auseinandersetzen. Dies ist ein Faktor, der bedingt, dass es zu einer höheren Mortalität kommt als bei einer Influenza. Wenn wir alle geimpft sind und das Virus in den nächsten zehn, zwanzig Jahren ein paarmal gesehen haben, kann es sein, dass die Mortalität zurückgeht. Aber in den nächsten drei bis vier Jahren wird das wahrscheinlich nicht der Fall sein. Umgekehrt will ich noch etwas sagen
Sagen Sie ruhig
Die Grippe ist kein Kinderspiel und nicht zu verwechseln mit einer normalen Erkältung. Die Virusgrippe kann auch schwer verlaufen. Wir haben jedes Jahr Menschen auf der Intensivstation, auch Menschen um die 30 oder 40 Jahre, die schwer an einer Influenza erkranken und behandelt werden müssen. Das wird vollkommen unterschätzt, und daran sterben pro Saison viele Menschen. Wir hatten vor drei Jahren eine Grippesaison, der wir kaum Herr geworden sind. Da wurden Patienten aus anderen Bundesländern eingeflogen, weil woanders alle Intensivbetten belegt waren.
Was hat Sie seit Beginn der Pandemie überrascht?
Am Anfang sind wir davon ausgegangen, dass die Mortalität so hoch ist wie bei der Grippe. Das wird auch irgendwann möglicherweise so sein. Aber jetzt ist sie viel höher, auch in Deutschland. Das hätte ich so nicht erwartet. Auch ist das klinische Bild bei einer Infektion mit dem Coronavirus anders als bei anderen Viren, die die Lunge infizieren. Es gibt eine sehr spezifische Immunreaktion, die die Viren auslösen. Wir schauen gerade im Detail hin, welche Zellen in der Lunge oder in anderen Organen infiziert werden. So wird über den Geruchs- und Geschmacksverlust berichtet. Werden bei einer Infektion Nervenzellen mit infiziert oder entzündlich gereizt? Auch Zellen der kleinen Blutgefäße sind wohl betroffen.
Sie haben in Gießen studiert und sind aktuell Leiterin der Infektiologie am Uniklinikum. Warum sind Sie trotz zweier Rufe an andere Unis geblieben?
Wenn man Forschung im Bereich der Lunge und Infektionen betreibt, ist Gießen einer der Places to be und kann sich international messen. Wir haben hier den Sitz des Deutschen Zentrums für Lungenforschung und große Sonderforschungsbereiche, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Ich leite eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte klinische Forschergruppe zum virusinduzierten Lungenversagen. Die Infrastruktur, auch mit dem Exzellenzcluster Herz-Lunge, ist so gut, dass es mich am Ende hier gehalten hat.
Hätten Sie gedacht, dass Sie mit Ihrem Forschungsfeld derart in der Öffentlichkeit stehen würden?
Wir haben immer damit gerechnet, dass uns die Influenza mal richtig Schwierigkeiten macht. Wir hatten auch Sorge, dass hochpathogene Vogelgrippeviren eine Pandemie auslösen werden. Über die Coronaviren haben wir nur ein bisschen nachgedacht. Spätestens aber mit dem Ausbruch des MERS-Coronavirus im Nahen Osten haben wir gedacht, dass da etwas auf uns zurollen wird. Es gab auch Pandemiepläne, aber die waren alle auf die Influenza fokussiert und darauf abgestimmt, dass es Medikamente und Impfungen schon gibt. Dass die Pandemie aber so kommt, in einer solchen Dimension mit derart heftigen globalen Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesundheitssysteme - das hätte ich so nicht erwartet.
Sie sind ja auch Beraterin der Bundesregierung.
Es ist spannend, dass ich beratend tätig sein kann, auch für das Robert-Koch-Institut. Ich lerne unheimlich viel darüber, wie Politik funktioniert, wie schwierig es ist, in einer solch kritischen Situation gute politische Entscheidungen zu treffen. Mit meiner Einschätzung kann ich aus der Sicht der Wissenschaftlerin oder Ärztin Ratschläge geben, aber nicht einschätzen, welche Auswirkungen ein Lockdown auf Wirtschaft und Gesellschaft haben kann. Das ist Sache der Politik. Die Entscheidungsfindung dort ist enorm schwer. Es muss in dieser dynamischen Situation immer wieder neu abgewogen, Entscheidungen müssen angepasst werden. Aber es ist schön, wenn man sein Wissen einbringen kann, um zu helfen. Da wird Wissenschaft sichtbar.
Politik ringt oft um Kompromisse: Was wäre nötig und was kann man der Gesellschaft zumuten?
Genauso ist es. Ich möchte nicht in der Haut eines Politikers stecken. Im Juni wurden Wissenschaftler angegriffen wegen der Entscheidungen, die getroffen wurden. Wir können aber nur sagen, was wahrscheinlich passieren wird, wenn zum Beispiel Schulen offen bleiben. Die Entscheidung dann treffen, unter Einbezug aller Auswirkungen, das können wir gar nicht. Ich finde, dass die Politik das in den meisten Fällen gut macht. Ich glaube, es ist hilfreich, wenn man mit den Menschen im Dialog bleibt und erklärt, warum man welche Entscheidungen getroffen hat. Denn wenn Regeln nicht mehr verstanden werden, wird es schwer, sich daran zu halten.
Frau Herold, sind wir überhaupt noch zu retten?
(lacht) Ja, natürlich sind wir noch zu retten. Die gute Botschaft ist doch: Maske, Abstand, Hände waschen und Lüften helfen. Das muss nur jeder umsetzen, und dann ist das Wichtigste getan.