Landsynagoge in Roth ist ein lebendiger Ort der Erinnerung
Weimar (dapd). Die Axt hat tiefe Kerben an der tragenden Säule der Empore hinterlassen. Vom Thoraschrein zeugt nur noch eine Silhouette. Wer die kleine Synagoge von Roth betritt, kann sich noch vorstellen, mit welcher Gewalt die Nazis hier wüteten.
Die Spuren sollen sichtbar bleiben. Dass die Landsynagoge nicht in Flammen aufging, hat sie nur dem Umstand zu verdanken, dass zwei direkt angrenzende Bauernhöfe ebenfalls gefährdet gewesen wären. Am heutigen Freitag reisen fast 20 Überlebende des Holocaust und ihre Nachfahren in das 870-Einwohner-Dorf im Kreis Marburg-Biedenkopf.
Eingeladen hat sie der Arbeitskreis Landsynagoge Roth, der zugleich sein 15-jähriges Jubiläum feiert. Er hat dafür gesorgt, dass aus dem Gotteshaus wieder ein lebendiger Ort der Erinnerung geworden ist.
Jahrzehntelang war das nicht absehbar. Nach dem Krieg wurde das Gebäude mit den Rundbogenfenstern zunächst zur Schreinerwerkstatt, dann mit Brettern vernagelt und als Scheune genutzt. Der Kreis unter dem damaligen Landrat Kurt Kliem musste eingreifen, damit die Synagoge renoviert werden konnte. Die Rother Bürger fürchteten nämlich, dass nach einer Sanierung das Geld für ein neues Bürgerhaus fehlen würde.
»Sie wollten sich nicht mit dieser Geschichte konfrontieren«, urteilt Annegret Wenz-Haubfleisch, die Vorsitzende des Arbeitskreises Landsynagoge Roth, der zur Hälfte von Zugezogenen getragen wird. Inzwischen ist die abwehrende Haltung gebröckelt. Doch es gebe immer noch Vorbehalte, sagt die Historikerin.
Dabei ist aus dem heruntergekommenen Gebäude, in dem der Sternenhimmel einst in Fetzen herunterhing, längst ein Schmuckstück geworden. Regelmäßig kommen Interessenten aus der ganzen Region zu Lesungen, Konzerten, Ausstellungen, Filmen, Tanzseminaren sowie zu Synagogengesprächen über historische, politische und religiöse Themen.
Kulturdenkmal als Lernort für Schüler
Das nur 45 Quadratmeter große Kulturdenkmal ist heute ein Lernort für Schulen. Jugendliche haben das rituelle Tauchbad - die sogenannte Mikwe - hinter dem Haus ausgegraben und das Nebengebäude errichtet. Sie suchten nach Spuren ihrer jüdischen Mitbürger und erstellten Ausstellungen. Die achten Klassen der Gesamtschule Niederwalgern kommen jedes Jahr zum Projekttag nach Roth. Regelmäßig bevölkern Grundschulkinder die Landsynagoge, in der sie zum Beispiel das Laubhüttenfest kennenlernen.
»Wir sind froh und dankbar, dass sich der Arbeitskreis so intensiv mit der Geschichte der Synagoge und des jüdischen Lebens in Roth auseinandersetzt«, lobt der Marburger Landrat Robert Fischbach. Dafür hat die mehrfach ausgezeichnete Gruppe - sie erhielt den Ubbelohde-Preis, den hessischen Denkmalschutzpreis und den Förderpreis Hessische Heimatgeschichte - in Archiven geforscht und Zeitzeugen interviewt: Für die Zeit bis 1933 wird das Verhältnis zwischen der jüdischen Gemeinde und den Christen als relativ spannungsfrei beschrieben. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch 32 jüdische Bürger in Roth. Mindestens 15 wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Elf konnten sich durch Emigration retten.
Zu den Überlebenden und ihren Nachfahren hat der Arbeitskreis intensive Kontakte. Bei der Festveranstaltung am Freitag ist auch der 82-jährige Walter Roth mit seiner Familie dabei. Er war neun Jahre alt, als er mit Eltern und Geschwistern nach Chicago emigrierte. Normalität und kindliche Freundschaften hat er in diesem Dorf nie erlebt, erzählt Annegret Wenz-Haubfleisch. Der Volksschullehrer schikanierte ihn. Sein Vater konnte in Roth kaum mehr als Futter- und Düngemittelhersteller arbeiten.
Bereits 1936 wanderte die Familie seiner Cousine Marion Solovei - damals erst ein paar Wochen alt - zunächst nach Südafrika, dann nach Kalifornien aus. Auch sie wird - ebenso wie die Nachfahren der Familie Höchster - aus den USA anreisen. Die Familien werden den erweiterten Gedenkstein, den jüdischen Friedhof, die Synagoge und das Straßenfest besuchen, mit dem das Jubiläum am Sonntag endet. »Für die Nachfahren sind die Besuche wichtig, um die Geschichte ihrer Eltern zu verstehen«, erklärt Wenz-Haubfleisch. Die Überlebenden haben den Synagogenfreunden schon vor Jahren aufgetragen, aus ihrem ehemaligen Gotteshaus einen lebendigen, fröhlichen Ort der Erinnerung zu machen.