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Gewaltfreie Erziehung? Die Realität sieht anders aus

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Wetzlar (wv). »Die Familie gilt den meisten als ein Ort der Geborgenheit. Doch nicht alle Kinder haben das Glück, an einem solchen Ort aufzuwachsen. Immer mehr Minderjährige sind inmitten der eigenen vier Wände von körperlicher und seelischer Gewalt bedroht«.

Das erklärte Gina Graichen vom Landeskriminalamt Berlin den rund 50 Mitgliedern und Gästen von »Pro Polizei« in Tasch’s Wirtshaus. Graichen leitet das bundesweit einzige Fachkommissariat »Delikte an Schutzbefohlenen«.

Kinder haben ein gesetzliches Recht auf gewaltfreie Erziehung, aber die Realität sei eine andere, berichtete die Kriminalhauptkommissarin aus ihrer täglichen Arbeit. Im Jahr 2010 wurden allein in Berlin 549 Anzeigen wegen Kindesmisshandlung gestellt, in Deutschland sind über 4000 Fälle öffentlich geworden, die Dunkelziffer sei aber um ein vielfaches höher. Viele Nachbarn schauen weg, und die Familie will ihr eigenes Nest nicht beschmutzen. Angezeigt werden in der Regel Fälle, in denen die Verletzungen des Kindes offensichtlich sind, erzählte die Expertin.

Fälle in allen sozialen Schichten

Viele Eltern seien überfordert und ratlos, selbst wenn das Kind gewünscht war. Bei Familien aus sozial auffälligen Milieus verlasse oft der leibliche Vater die Familie. Die Mutter sitze allein zu Hause, möchte aber gerne in die Disco gehen, schilderte Graichen. Und wenn das Baby dann noch schreie, sei die Misshandlung vorprogrammiert. »Dann flippen sie richtig aus. Sie setzen das Kleine auf die Herdplatte oder in die mit heißem Wasser gefüllte Badewanne«, schilderte die Kripo-Beamtin drastisch. Und das seien keine Einzelfälle. »Sie können sich nicht vorstellen, mit welchen Mitteln Eltern ihre Macht ausüben«, so Graichen. Dabei seien Schläge mit dem Stock oder Besenstiel meist nur der Anfang, auch bei größeren Kindern seien zu heißes Baden, Essensentzug oder Wegsperren »beliebte Strafen«. Körperliche Züchtigungen könnten auffallen, also würden vor allem besser gestellte Familien eher zu seelischen Misshandlungen neigen. Dabei sei die Wegnahme und das Zerstören des geliebten Kuscheltieres für Kinder besonders schmerzlich. Während die Berliner Expertin ihre Beispiele schilderte, war es mucksmäuschenstill im Saal.

»Ich bin jetzt schon 14 Jahre in diesem Bereich tätig, aber jeder Fall löst bei mir Betroffenheit aus«, so die Spezialistin, die dann auf das »Schütteltrauma« zu sprechen kam. Immer wieder erleiden Säuglinge schwere Hirnschäden oder sie sterben, von ihren Eltern zu Tode geschüttelt. Meistens sind es die Schreikinder, die so ruhig gestellt werden sollen. Ein anderes Mittel der Züchtigung sei die Kindesvernachlässigung, sie komme in allen sozialen Schichten vor. Kinder werden im Bett festgebunden, bekommen kein Essen, die Wohnung ist verwahrlost, die Haltbarkeit der Lebensmittel im Kühlschrank schon seit Monaten abgelaufen.

Täter im familiären Umfeld

»Unsere Dienststelle erfährt meist zuletzt von Kindesmisshandlungen, zunächst sind die Jugendämter gefragt, wir können erst tätig werden, wenn eine Anzeige erfolgt oder direkte Gefahr für Leib und Leben des Kindes besteht.« Auf die sexuellen Misshandlungen von Kindern angesprochen, erklärte Graichen, »hier ist die Dunkelziffer noch höher. Aber in den meisten Fällen ist der Täter im familiären Umfeld zu Hause«.

Eingangs hatte Hans-Jürgen Irmer, Vorsitzender von »Pro Polizei Wetzlar«, den Gast aus Berlin und die Besucher begrüßt, unter ihnen Lehrer und Erzieher in sozialen Einrichtungen.

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